
© A. Klaer
Landeshauptstadt: Der lange Weg zur Inklusion
Die Goethe-Grundschule wird als Pilotschule zur Inklusion von Uni-Forschern begleitet. Die ersten Studienergebnisse machen Mut
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Es ist früher Morgen, der Unterricht hat noch nicht begonnen. Im stillen Klassenraum der 2b ordnet Stefanie Bosse ihre Unterlagen und zeichnet mit Kreide kleine Bilder an die Schultafel. Normalerweise arbeitet die junge Frau nicht in einem Klassenzimmer, sondern an der Universität Potsdam. Die Wissenschaftlerin gehört zu einem Forscherteam, das 35 Brandenburger Schulen auf dem Weg zur sogenannten Inklusion begleitet. Heute sammelt Stefanie Bosse Daten für ihre Forschung.
Im vergangenen Jahr starteten auf Initiative des Landesministeriums für Bildung, Jugend und Sport 84 Brandenburger Grundschulen mit dem Pilotprojekt „Inklusive Grundschule“. In den ausgewählten Schulen lernen Kinder im Rollstuhl, mit Down-Syndrom oder einer Lernschwäche gemeinsam mit Kindern ohne Handicap. Insgesamt haben knapp sechs Prozent der Schüler einen sonderpädagogischen Förderbedarf.
Mit dem Läuten der Schulglocke betreten die ersten Kinder den Raum. Auf ihren Plätzen liegen bereits die umfangreichen Testbögen, die sie in den nächsten beiden Stunden ausfüllen werden. Die Klasse 2b ist eine von insgesamt 72 Klassen der zweiten und dritten Klassenstufe, die das Forscherteam über zwei Jahre hinweg intensiv beobachtet. „Wir schauen uns an, wie die Schüler in den Fächern Mathematik und Deutsch lernen und auch, wie sie sich in ihren persönlichen und sozialen Kompetenzen entwickeln“, erklärt Nadine Spörer, Professorin für Psychologische Grundschulpädagogik und eine von insgesamt vier Professoren der Universität Potsdam, die das Pilotprojekt vom Standpunkt der Forschung aus betrachten. Ihr Ziel ist es, Erfahrungen, Probleme und Entwicklungen in den Schulen zu beobachten und zu dokumentieren. Und schließlich zu analysieren, unter welchen Voraussetzungen Inklusion gelingen kann. Von den Erfahrungen der Pilotschulen sollen künftig andere Schulen profitieren.
Im vergangenen Herbst hat Stefanie Bosse die Klasse 2b zum ersten Mal besucht. Auch damals hat sie Testbögen mitgebracht. Im nächsten Frühjahr wird sie noch ein drittes Mal wiederkommen. Jedes Kind der Klasse 2b wird die Fragebögen ausfüllen und damit über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren Aufschluss über seine Kenntnisse und Fähigkeiten und deren Entwicklung geben. Wörter lesen, Rechnen, Schreiben, Texte verstehen – am Ende werden die Daten von mehreren Tausend ausgefüllten Testbögen zeigen, wie Kinder an den inklusiv unterrichtenden Pilotschulen lernen und wie unterschiedlich ihre fachlichen Kenntnisse sind.
Jüngst präsentierten die Forscher erste Ergebnisse ihrer Untersuchungen – und diese machen Mut. Demnach profitieren sowohl leistungsstarke als auch -schwache Schüler vom gemeinsamen Lernen. „Die Befürchtung vieler Eltern war, dass die leistungsschwächeren Kinder vom inklusiven Unterricht profitieren, die leistungsstarken dabei jedoch auf der Strecke bleiben“, erklärt Nadine Spörer. Mit den aktuellen Daten können die Forscher in diesem Punkt jedoch Entwarnung geben. Durch die von den Wissenschaftlern genutzten standardisierten Leistungstests ist auch ein indirekter Vergleich mit nicht inklusiv unterrichtenden Schulen möglich: „Bislang deutet nichts darauf hin, dass es in der Kompetenzentwicklung der Schüler große Unterschiede zwischen Inklusionsschulen und anderen Schulen gibt“, berichtet Spörer.
Gerade diejenigen, die den Inklusionsgedanken in den Schulen umsetzen, sehen jedoch auch die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. „Eigentlich bräuchten wir mehr Hilfe von außen“, sagt Anja Thomaschewski, die Leiterin der Goethe-Grundschule. Die Arbeitsbelastung für die Lehrkräfte sei enorm. Denn nicht nur fachlich, sondern auch sozial seien die Kompetenzen der Schüler sehr verschieden. „Wir haben Kinder mit Lernschwierigkeiten und auch emotional-sozialen Entwicklungsstörungen“, erklärt Thomaschewski. Übermäßig ängstliche Kinder oder solche, die schnell aggressiv reagieren, müssen intensiver betreut werden als andere. Als Teilnehmende des Pilotprojekts stehen der Goethe-Schule zusätzliche Lehrerstunden zur Verfügung. Sie sollen gewährleisten, dass die Bedürfnisse aller Schüler abgedeckt werden und im Bedarfsfall auch zwei Lehrer in einer Klasse unterrichten können. Im Krankheitsfall verpuffen diese Stunden jedoch schnell, so die Schulleiterin.
„Unsere Aufgabe als Pilotschule ist es, Bedingungen zu benennen, unter denen Inklusion gelingen kann. So müssen etwa zugewiesene Lehrerstunden auch im Krankheitsfall gewährleistet sein“, fordert Anja Thomaschewski deswegen. Qualitativ hochwertige Fortbildungen für alle Lehrer und kleinere Klassengrößen seien ebenfalls notwendig, um Inklusion zu verwirklichen. Trotz hoher Belastungen seien die Lehrkräfte hoch motiviert, ihren Unterricht neu zu gestalten, betont die Schulleiterin. „Wir wollen jedem Kind mit dem Potenzial, das es hat, gerecht werden. Aber die Bedingungen müssen stimmen.“
Heike Kampe
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