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DICHTER Dran: Der Mann kommt nicht als Frau zur Welt, sondern wird es

In Leipzig gebe ich ein Seminar über die Chancen, die das Schreiben bietet, sich von überkommenen Vorstellungen zu befreien. Die Potsdamer leben wahrhaft frei.

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In Leipzig gebe ich ein Seminar über die Chancen, die das Schreiben bietet, sich von überkommenen Vorstellungen zu befreien. Die Potsdamer leben wahrhaft frei. Sie überwinden die Grenzen des Denkens und damit ihre körperlichen Grenzen mit Leichtigkeit schon im Alltag. Anfang der Woche war ich bei Kaufland. Ich schiebe diese Einkäufe lange auf, weil sie Schlepperei bedeuten. Aber irgendwann geht auch das letzte Sixpack Wasserflaschen zur Neige. Auf dem oberen Parkdeck gibt es gut gelegene Frauenparkplätze. Sie waren zugeparkt. Nach einem Manöver vor der Schranke gelangte ich auf Parkdeck -1 und fand eine Lücke nah beim Eingang, ausgeschildert für Frauen. Ich checkte Ausweis und Körper und stellte fest, dass ich berechtigt war. Ich gebe zu, das war eine altmodische Reaktion. Sie war hier gar nicht mehr nötig. Ich war noch befangen in einem alten binären Konzept, in dem das eine Geschlecht nur existiert, weil es das andere nicht ist, sondern begehrt. Ein Konzept, in dem beliebige Körpermerkmale unter dem Label männlich oder weiblich zusammengefasst werden, um sie dann mit Eigenschaften zu versehen wie solchen, dass Frauen nicht einparken können. Neben mir hielt ein Nissan Micra. Er hatte Probleme, der Säule auszuweichen, kam aber sicher zum Stehen. Ein knapper Lederhut tauchte aus der Fahrertür, unter ihm ein rasiertes, älteres Gesicht, hellgrauer Anorak, Stoffhosen; früher hätte ich gesagt: ein Mann. Jetzt schämte ich mich. Mürrisch selbstsicher schritt das Wesen davon – es musste meine konservativen Gedanken erraten haben. Ich ertappte mich wieder, als ich einen anderen einen Kasten Bier in seinen Renault Clio schleppen sah. Drüben packte einer im beigen Anorak Cervelatwurst in seinen VW Polo. Sie alle standen lässig auf Frauenparkplätzen. Sie hatten solche Kategorien längst überwunden. Ihnen gelang das Unmögliche: sie konnten sich in jedem Moment frei entscheiden. Bei Kaufland entschieden sie sich, weiblich zu sein. Ich werde mit meinen Leipziger Studenten eine Exkursion nach Potsdam machen: Anschauung in Sachen Gender-Fortschritt.

Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Antje Rávic Strubel

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