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DICHTER Dran: Der Nackte vom Park

Gestern war ich wieder im Park. Ich gehe jetzt ständig in den Park.

Stand:

Gestern war ich wieder im Park. Ich gehe jetzt ständig in den Park. Ich nehme den Weg an der Havel entlang, ängstlich, getrieben, um mich zu vergewissern, dass er noch da ist. Auch gestern war er da. Er saß vor seinem Fahrrad am Ufer. Die blaue Plastikplane hinter ihm, sein Windschutz, wölbte sich. Eine rote Verkehrskelle aus Plastik ruhte in seiner Hand. Die Plastikkelle ist eine von denen, die gewöhnlich an Gepäckträgern von Kinderfahrrädern angebracht sind, damit den Kleinen beim Überholen niemand zu nahe kommt. Während er da sitzt, hält er die Kelle raus. Aber nie kommt ihm jemand zu nahe. Die Decken der Verliebten, der Familien sind in einiger Entfernung von ihm ausgebreitet. Niemand geht in seiner Nähe ins Wasser. Er ist nackt bis auf den schmalen Streifen der Badelatschen über dem Spann. Er sieht auf den See und auf das Gras, das zu seinen Füßen wächst. Manchmal spielt ein Kofferradio. Das Frühsommerlicht hat seinen Körper so gleichmäßig eingefärbt, dass die Haut ledern geworden ist. Anfangs machte ich mich lustig. Im Freundeskreis erzählte ich: Sobald der Schnee geschmolzen ist, sitzt er am Ufer und ist nackt. Wenn andere Parkbesucher noch Handschuhe tragen, hat der schon Sonnenbrand, witzelte ich. Das hat sich geändert. Ich finde ihn nicht mehr komisch. Wenn ich ihn sehe, bin ich beruhigt. Vielleicht habe ich mir den Hüter von heiligen Stätten immer so vorgestellt; sein Körper im Einklang mit der Natur, der magische Kreis um ihn, dem sich niemand zu nähern wagt, die Antenne des Kofferradios verbindet ihn mit dem Himmel. Wenn er da ist, muss die Hand zu Stein erstarren, die eine leere Flasche ins Schilf schmeißen will, und die Blase, die kurz davor ist, sich in den Flieder zu entleeren, platzt. Seine Anwesenheit erinnert an etwas, das die Menschen in Anzügen, in klimaregulierten Räumen, hinter heruntergelassenen Jalousien, die über den Park entscheiden, längst vergessen haben. Das blanke Dasein. Die Frage ist nicht, ob wir uns den Eintritt von zwei Euro leisten können, sondern ob wir es uns leisten können, nirgendwo mehr frei zu leben.

Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienenen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Antje Rávic Strubel

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