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Landeshauptstadt: Der Verbindungsmann

Stefan Kühne klingelt täglich an bis zu 15 Wohnungstüren – im Auftrag des Arbeitsamts

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Er ist die Verbindung zur realen Welt. Er kennt die Wohnzimmer der Menschen, deren Namen und Daten in den 22 000 Akten stehen, die in den Regalen der Behörde am Horstweg 108 lagern. Stefan Kühne ist im Auftrag der Paga, der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung Arbeitssuchender, in der Stadt unterwegs – jeden Tag mit der Straßenbahn und oft zu Fuß. Er trägt immer eine schwarze Lederaktentasche unterm Arm.

Sein erstes Ziel an diesem Arbeitstag: eine junge Frau in der Waldstadt. Stefan Kühne will kontrollieren, ob sie ihr Arbeitslosengeld II heimlich mit Schwarzarbeit aufbessert. „Leistungsmissbrauch“ heißt das auf Beamtendeutsch. Aber viel mehr weiß Stefan Kühne nicht über sie. „Ich bereite mich eher nicht vor“, sagt er. „Ich weiß aber, worum es geht.“ Die Akten der Betroffenen liest er nicht, denn seine Berichte, die er nach jedem Hausbesuch schreibt, sollen „möglichst neutral“ werden.

Darum liegen in seiner Ledertasche auch nur A4-Blätter mit seinen Bleistiftnotizen und ein Paar hellblaue Plastik-Überzieher für die Schuhe: Nicht um die Wohnungen der Hartz-IV-Empfänger zu schützen, sondern sich selbst. Er kennt „Wohnungen, die sind so was von verdreckt, voller Fäkalien, die Fenster kaputt“. Einmal musste er nach einem solchen Hausbesuch seine Tagestour abbrechen und erst einmal nach Hause gehen, um zu duschen. Vor Ort hat er aber nichts gesagt: „Ich stehe da drüber, ich kann ja niemandem vorschreiben, wie er leben soll“, sagt er. Nur neulich, da hat er das Jugendamt gerufen. Eine Mutter hatte ihr Kind in einer solchen Wohnung voll Kot und Müll „ins Kinderzimmer weggesperrt – da war das Kindeswohl gefährdet“. Das sind die schlimmen Fälle.

Seit zwei Jahren ist der studierte Sozialpädagoge Außendienstmitarbeiter der Paga. Vorher hat der 42-Jährige die Potsdamer Suppenküche geleitet. Jetzt sitzt er jeden Morgen mit seinem Kollegen ab sieben Uhr im Büro, telefoniert, vereinbart Termine. Um halb zehn gehen die beiden dann auf Tour, jeder für sich. Bis zu 15 Hausbesuche schaffen sie am Tag. Manchmal aber auch nur vier. Zum Beispiel, wenn sie in Fahrland oder Marquardt unterwegs sind, wo nur wenige Hartz-IV-Empfänger leben.

Touren dorthin sind genauso selten wie Kontrollbesuche in der Innenstadt oder der Berliner Vorstadt. Meist klingeln die Männer vom Amt an Türen in den Plattenbaugebieten. Oder sie schauen bei Unternehmen vorbei, die Ein-Euro-Jobs anbieten. Dort prüfen sie, ob sich die Arbeitgeber an die Regeln halten. Schließlich werden die Ein-Euro-Jobber von der Paga bezahlt. An seiner neuen Arbeit mag Kühne besonders, dass er selbstständig arbeiten kann. Und „dass ich immer neue Leute kennen lerne“. Er versucht ihnen zu helfen – wie der Mutter, die nicht wusste, woher sie das Geld nehmen sollte, um ihrem Jungen die Reise nach Stuttgart zu den Deutschen Schach-Jugendmeisterschaften zu bezahlen, für die er sich qualifiziert hatte. Kühne wusste, welche Stiftungen solche Talente sponsern und gab ihr die wichtigsten Telefonnummern.

Jetzt steht er am Hauseingang in der Waldstadt – bereits zum dritten Mal. Kühnes Aufgabe ist es nun, die Frau zu befragen, wie oft sie nicht daheim ist und was sie dann tut. Vielleicht muss sie ihm auch sagen, womit sie den neuen Fernseher bezahlt hat oder die neue Couch. Wegen Schwarzarbeit angezeigt hat die Mutter zweier Kinder der Ex-Ehemann, der im selben Neubaublock direkt neben ihr wohnt. Zwei- bis dreimal im Monat erhalten Kühne und sein Kollege solche Anzeigen. „Ganz oft sind es die ehemaligen Lebenspartner“, sagt Kühne. Er klingelt – dreimal. Niemand öffnet, obwohl er sich vorher angemeldet hatte. Und obwohl der Frau nun droht, dass ihr das Geld vom Staat vorerst gestrichen wird – wegen „fehlender Mitwirkung“.

So etwas passiert Kühne hin und wieder, aber meistens bereiten sich die Menschen auf ihn vor, räumen extra für den Besuch vom Amt auf: „Sie wollen ja was von uns.“ Die arbeitslose Frau, die er als nächstes besucht, will eine neue Wohnung. Denn ihre Nachbarn, meist im Rentenalter, beschweren sich ständig über ihre beiden Kinder. Sie seien zu laut. Kühne soll herausfinden, ob die Wohnung deswegen tatsächlich „unzumutbar“ für sie ist und sie ein Recht auf eine neue hat.

Er sitzt auf ihrem Sofa, schreibt alles auf ein Blatt Papier. Am nächsten Morgen wird er in seinem Büro aus den Notizen den Bericht für die Akten seiner Kollegen bei der Paga verfassen. In dem steht dann auch, dass die Wohnungsgesellschaft Gewoba der Mutter schon eine neue Wohnung angeboten hat – größer, billiger und in einem Aufgang, wo mehrere Kinder leben. Kühnes Kollegen müssten den Umzug allerdings erst genehmigen. „Ich entscheide das nicht“, sagt er. Aber er wird denjenigen, die das tun, schreiben, dass ihm „glaubhaft erscheint“, was die junge Frau über die Nachbarn erzählt.

Nach einer Busfahrt an den Stern sitzt Kühne auf der nächsten Couch. Sie gehört Corinna B., die dort nachts mit ihrer vierjährigen Tochter Xenia schläft. In deren Kinderbett liegt nämlich Corinna B.s Älteste, die 17-jährige Maria, neben ihrem elf Monate alten Sohn Leon. Nur Corinna B.s 15-jähriger Sohn Michael hat ein eigenes Zimmer. In der engen Dreiraumwohnung am Stern leben fünf Personen. Auch Kühne, der selbst Tochter und Sohn hat, findet die 60 Quadratmeter zu klein: „Welche Möbel könnten Sie denn in eine neue Wohnung mitnehmen?“, will Kühne wissen. Bis auf das Kinderbett und die Wickelkommode bräuchte Maria alles neu. „Es kann aber sein, dass Sie die Möbel nicht geschenkt kriegen, sondern nur ein Darlehen dafür“, sagt Kühne. Denn das Amt zahlt Schrank, Bett, Herd, Tisch und Stühle lediglich, wenn es sich um die so genannte Erstausstattung handelt. Maria hatte allerdings – gleich nach der Geburt ihres Kindes – zusammen mit ihrem Freund bereits eine eigene Wohnung. Doch das ging nicht gut und nach fünf Monaten zog sie wieder bei ihrer Mutter Corinna und den Geschwistern ein.

Nach einer Viertelstunde verabschiedet sich Kühne. Die Cola, die ihm Maria angeboten hat, hat er abgelehnt. Er verzichtet immer, sagt er. Denn eins will Stefan Kühne vermeiden: auf seiner Kontrolltour eine fremde Toilette benutzen zu müssen. Fünf Familien und eine Firma hat er bis zum Feierabend am Nachmittag besucht. Seine blauen Überschuhe sind dieses Mal in der Ledertasche geblieben.

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