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Prof. Elsbeth Stern über „Intelligentes Wissen“
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Prof. Elsbeth Stern über „Intelligentes Wissen“ Mathematische Fauxpas’ tragen zur Erheiterung bei. Wenn im Wetterbericht eine 50-prozentige Niederschlagswahrscheinlichkeit sowohl für den Sonnabend als auch für den Sonntag prognostiziert wird und der Moderator daraus schlussfolgert, dass es am Wochenende zu hundert Prozent regnen wird, so löst das eher Belustigung denn Erschrecken aus. Mathematisches Versagen wird hier zu Lande eher toleriert als sprachliches. Man hat eben keine Begabung Falsch, sagt Prof. Elsbeth Stern vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Mathematisches Können hat mit der Art des Denkens zu tun, nicht mit Begabung, erklärt sie in einem Vortrag am Potsdamer Einstein Forum. Intelligenz allein nütze dem Einzelnen nichts, wenn er sie nicht in Wissen umsetze. Die Chance, intelligentes Wissen zu bilden, aber werde in vielen deutschen Schulen vertan. Die Wurzel des Übels liegt, man ahnt es, im frühen Lernen während der Kindergarten- und Grundschulzeit. Das Beispiel, mit dem die Psychologin das Problem veranschaulicht, ist so einfach wie einleuchtend: eine mathematische Sachaufgabe, in der sich fünf Vögel drei Würmern gegenüber sehen. Die Frage, wie viele Vögel keinen Wurm abbekommen, beantworten 95 Prozent der Erstklässler richtig. Fragt man jedoch, wie viel mehr Vögel es als Würmer gibt, so rutscht die Trefferquote auf magere 25 Prozent. Die Kinder können zwar richtig zählen – eine Fähigkeit, die sie fast im Selbstlauf erlernen – doch sie können die Mengen nicht ins Verhältnis setzen. Ihr Denken verläuft eher eindimensional, nicht zweidimensional oder proportional. Ein Manko, das sich mit einfachen Übungen ausgleichen lässt. Schon ein zweitägiges Training, bei dem die Kinder unter anderem Säfte mixen und dabei das Mischungsverhältnis proportional erhöhen sollten, brachte einen Denk-Erfolg, der sich noch zwei Jahre später bei einer Kontrolluntersuchung im Vergleich mit untrainierten Kindern nachweisen ließ. Wichtig sei, so Elsbeth Stern, dass man an vorhandenes Wissen anknüpfe, es erweitere und vernetze, also für andere Aufgabenstellungen nutzbar mache. Es helfe nicht, isolierte Denkstrategien als Schlüsselqualifikation zu entwickeln. Das Denken ist immer an den Inhalt gebunden. Einzelne Kompetenzen losgelöst von anspruchsvollen Inhalten zu trainieren, habe sich als unmöglich herausgestellt. Intelligentes Wissen hingegen bedeutet, gelernte Fakten so im Gedächtnis abzulegen, dass sie vielfach verwendbar, kombinierbar und auf andere Bereiche transferierbar sind. Und das kann jedes Kind lernen, ganz gleich wie hoch sein IQ ist. Wesentlich ist, dass alle Kinder anregende schulische Umfeldbedingungen und gleiche Chancen erhalten und dass sich Lehrer mit verschiedenen Konzepten auf die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler einstellen. Ein anderes Defizit beim Erwerb intelligenten Wissens sieht Elsbeth Stern im problemorientierten Denken. Sachaufgaben mit Fragestellungen, die dazu anregen, ein Problem von verschiedenen Seiten zu betrachten, einzelne Größen ins Verhältnis zu setzen und die Vielfalt von Lösungsmöglichkeiten zu entdecken, finden sich in deutschen Grundschulbüchern eher selten. Während hier nur zwei Prozent der Aufgaben solche Merkmale aufweisen, sind es in osteuropäischen und russischen Büchern bis zu 60 Prozent. Auch ein Rückblick in die Mathebücher der DDR lohnt, in denen bei einer Vergleichsanalyse ein Anteil von 40 Prozent ermittelt wurde. Angesichts der PISA-Ergebnisse bleibt in deutschen Grundschulen einiges nachzuholen. Was hier versäumt wurde ist aber nicht verloren, so die Bildungsforscherin. Intelligentes Wissen lässt sich auch in späteren Schuljahren, auch an der Universität noch erarbeiten. Die Frage sei nur, ob wir uns eine solche Verzögerung leisten können. Antje Horn-Conrad
Antje Horn-Conrad
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