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Ausgesprochen KAPUSTE: Die alten Hamster

Vor Kurzem bin ich an einem Wendepunkt meines Lebens angelangt. Zweimal boten mir junge Frauen in einer voll besetzten S-Bahn ihren Platz an.

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Vor Kurzem bin ich an einem Wendepunkt meines Lebens angelangt. Zweimal boten mir junge Frauen in einer voll besetzten S-Bahn ihren Platz an. Beim ersten Mal habe ich gemurmelt, ich müsse gleich aussteigen. Was ich, um nicht das Gesicht zu verlieren, auch tat, um dann allerdings zehn Minuten später in die nächste Bahn einzusteigen. Beim zweiten Mal habe ich das Angebot angenommen. Da saß ich nun und wusste, Kapuste, du bist nun kein älterer Herr mehr, sondern ein alter Sack! Demnächst wirst du auch noch als „Urgestein“ bezeichnet, als jemand, der die menschliche Entwicklung seit der Steinzeit verschlafen hat.

Dabei gehöre ich doch zu den dynamischen, kreativen, gut genährten Siebzigern, zu den Männern, die voller Tatendrang und ohne Burnout mit einer Vielzahl von ehrenamtlichen Tätigkeiten Potsdam am Laufen halten. Ohne uns geht nichts und deshalb dürfen wir uns nicht zur Ruhe setzen und müssen ständig bereit sein, wie die Hamster im Laufrad selbst gesetzten Terminen hinterherzuhecheln. Zu Hause stünden wir nur im Weg und die vielen Familienfotos, die wir seit Jahren endlich mal in aller Ruhe sichten und neu ordnen wollen, müssen halt weiter warten.

Wir sind in guter Gesellschaft von Ministerpräsidenten, Ministern, Stadtverordneten, Fußballtrainern, Fifa-Funktionären und Vorsitzenden von Aufsichtsräten, Kaninchenzuchtvereinen und Bürgerinitiativen, all den alten Herrschaften, die auch weit jenseits der Pensionsgrenze nicht loslassen können. Dazu kommen die greisen Rock- und Popstars, die nach stundenlanger Sauerstoffzufuhr wie die Jungen auf der Bühne umherhampeln, und die Firmenpatriarchen, die so lange beratungsresistent das Steuerrad in den Händen behalten, bis sie ihren Laden an die Wand gefahren haben. Und, und, und.

Ja, ja, es ist ein Kreuz mit uns dynamischen Alten. Natürlich würden wir gerne in Ruhe unseren Lebensabend genießen, jedoch den Jungen weiterhin mit Ratschlägen zur Seite stehen. Aber die will erstens niemand hören und zweitens käme, setzten wir uns zur Ruhe, für uns nichts mehr danach. Früher glaubten die Leute, am Ende erwarte sie das ewige Leben, heute ist es allenfalls der Rollator. Also strampeln wir weiter. Immer langsamer, aber wir strampeln, und behaupten, es mache Spaß, Stress sei doch etwas Positives, er mache unser Leben interessant und weniger langweilig. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Unser Autor ist ehemaliger Stadtverordneter der CDU und war Vorsitzender des Ausschusses für Kultur. Er lebt in Eiche.

Eberhard Kapuste

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