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Homepage: Die ausgefallene Debatte

Der Mythos von 1968 und sein wissenschaftlicher Stellenwert

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Der Mythos von 1968 und sein wissenschaftlicher Stellenwert Irgendwie sind die 68er an allem Schuld. An der Krise der Familie, am Niedergang der Werte, ja, sie ruinieren sogar den deutschen Fußball. So zumindest sehen es gern die konservativen Medien. Längst ist hier „68“ zur Chiffre für Krise und Verfall avanciert. In der historischen Forschung findet der viel beschworene „Mythos 1968“ aber relativ wenig Beachtung. Man spricht sogar von einer „ausgefallenen Debatte“. Jörg Requate, Historiker an der Uni Bielefeld, ging nun am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) dieser Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und wissenschaftlichem Stellenwert nach. Will man nicht bloß die Ereignisse des Jahres 1968 erzählen, sondern ihre Wirkung analysieren, stößt man schnell an methodische Grenzen. Was war eigentlich „68“? Welche Impulse aus der Studentenbewegung, die den „Muff aus tausend Jahren“ beseitigen wollte, wurden von der Gesellschaft aufgenommen? Requate konzentriert sich auf methodisch fassbare Bereiche. Er fragt exemplarisch für den Justizapparat und den Bildungssektor nach der tatsächlichen „Wirkung“ von „68“. Zunächst machte er klar, dass die Reformdebatten nicht erst 1968 einsetzten, sondern längst ein allgemeines Klima des Veränderungswillen herrschte, das die SPD geschickt nutzte, um sich bei fast allen Themen als Reformkraft zu präsentieren. Gegen Ende der 60er Jahre habe für kurze Zeit eine „Hegemonie des Reformdiskurses“ geherrscht. Bemerkenswert sei, dass die spezifische und zum Teil radikale Rhetorik der Studentenbewegung vielfach übernommen wurde, selbst vom traditionell eher konservativen Richterbund. Das permanente Reden über Reformen habe jedoch kaum der tatsächlichen Reformbereitschaft entsprochen. Denn direkt daraus resultierende Veränderungen seien eher marginal gewesen. Die Angst vor dem angekündigten „Marsch durch die Institutionen“ habe schließlich bis in die Reihen der SPD ihre Wirkung gezeigt und zu einem konservativen „roll-back“ des Reformeifers in den 70er Jahren geführt. Im Laufe der Jahre wandelte sich die Chiffre „68“ immer mehr zu einer diffusen Zuschreibung in den politischen Auseinandersetzungen. Aus langfristiger Perspektive rücken, so Requate, die Ereignisse mehr in den globalen Kontext eines allgemeinen Protest- und Umbruchjahres vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges. Fraglich sei jedenfalls, ob die wenigen 68er Protagonisten, die bis in höchste Regierungsämter „marschierten“, heute noch für das stehen, was die Öffentlichkeit mit dem Mythos 1968 verbindet. Carsten Dippel

Carsten Dippel

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