Landeshauptstadt: „Die Brille vergessen“
Sie können zwar Worte lesen, aber keine Texte: Seit 2008 hilft das Alpha-Bündnis-Potsdam Betroffenen
Stand:
Innenstadt - Analphabet ist nicht gleich Analphabet: Während der kleinere Teil der Betroffenen tatsächlich schon an der Anzeigentafel im Bahnhof scheitert, gibt es auch diejenigen, die das noch schaffen. Die sogenannten „funktionalen Analphabeten“ können beispielsweise auch eine SMS schreiben. Große Probleme haben sie dagegen mit längeren Texten: Sie können einen solchen Text zwar Wort für Wort laut vorlesen, den Inhalt aber kaum erfassen. Gut 14 Prozent aller erwerbsfähigen Deutschen von 18 bis 64 Jahren sind laut einer Studie der Universität Hamburg vom März 2011 davon betroffen – umgerechnet auf Potsdam sind das mehr als 14 500 Einwohner.
Für sie sind Probleme im Alltag, vor allem aber in der Arbeitswelt vorprogrammiert: Häufig scheitern sie bereits bei der Ausbildung, denn selbst Pflegehelfer oder Wachschützer müssen ihre Arbeit – anders als früher – umfangreich schriftlich dokumentieren, erklärt Anja Hendel: „Viele Betroffene sind arbeitslos.“ Die 35-jährige Sozialwissenschaftlerin koordiniert an der Volkshochschule Potsdam das Alpha-Bündnis-Potsdam, mit dem funktionale Analphabeten für die Grundbildungskurse im Lesen, Rechnen oder der Arbeit am Computer gewonnen werden sollen. Denn entsprechende Angebote und vier spezielle Lehrkräfte gibt es an der Volkshochschule bereits seit Jahren, berichtet Hendel: „Die Menschen aus der Zielgruppe lesen aber das Programmheft nicht.“
Im Rahmen des Alpha-Bündnisses werden Betroffene deswegen persönlich angesprochen: Seit 2008 haben sich dazu rund 20 Einrichtungen zusammengeschlossen, darunter das Jobcenter, das Jugendamt, die Industrie- und Handelskammer oder Oberstufenzentren. So wurden beispielsweise die Fallmanager im Jobcenter bei einer Schulung sensibilisiert, um Analphabetismus zu erkennen und die Betroffenen über die Angebote zu informieren, erklärt Anja Hendel. Stutzig könne man zum Beispiel werden, wenn jemand ständig „die Brille vergessen“ hat und Formulare lieber mit nach Hause nimmt.
Zusätzlich zu den bestehenden Grundbildungs-Kursen richtete die Volkshochschule 2009 mit dem Diakonischen Werk im Familienzentrum am Schlaatz ein „Lerncafé“ als niedrigschwelliges Angebot ein, das sich besonders an Frauen richtet. Es wird laut Hendel gut angenommen: zehn Frauen nutzen regelmäßig die Möglichkeit zur individuellen Förderung und Kinderbetreuung. Auch die Nachfrage nach Grundbildung bei der Volkshochschule sei durch die Bündnis-Arbeit gestiegen – mittlerweile gibt es Wartelisten. jaha
Kontakt zu Anja Hendel unter Tel.: (0331) 289 45 64 oder per Mail an: a.hendel@rathaus-potsdam.de
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: