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DICHTER Dran: Die einen und die anderen

Beim türkischen Imbiss, der mich versorgt, wenn ich spät von einer Reise zurückkomme, war diesmal das letzte Hähnchen gerade weg. Es verschwand in der Tüte für ein Paar, das vor mir dran war.

Stand:

Beim türkischen Imbiss, der mich versorgt, wenn ich spät von einer Reise zurückkomme, war diesmal das letzte Hähnchen gerade weg. Es verschwand in der Tüte für ein Paar, das vor mir dran war. Ich wollte schon gehen, als der junge Mann mir ein Zeichen machte. Seine Hand teilte die Luft. Mit einer Kaskade aus Spanisch oder Portugiesisch wurde mir eine der beiden Hähnchenhälften überreicht. Die beiden kamen aus Lateinamerikaner. Vielleicht wollten sie nur mal gucken, wie das so ist mit dem Fachkräftemangel und wie es sich in Potsdam leben lässt, vielleicht hatten sie schon beschlossen zu bleiben. Sie verstanden sofort meine Not. Ich hätte ihnen zum Dank gern den Einsteinturm gezeigt, aber es war nachts um elf, sie hatten Hunger, und der junge Mann war schon dabei, eine türkische Pizza dazu zu bestellen. So freundlich umhüllt ging ich am nächsten Morgen zum Babelsberger Markt. Ich wollte eine handgezogene Uckermärker Salatdelikatesse kaufen. Sie war allerdings schon zur Neige gegangen, und vor mir war noch eine in ökologischen Selbstrick gekleidete, gesundheitsbewusste Mutter dran. Sie fing an, von ihren Eltern zu erzählen, denen sie dringend GANZ VIEL Salat mitbringen müsse, und von ihrem Mann, der diesen Salat SO GERN esse, weshalb sie zwei große Tüten voll haben müsse und fürchte, er könne für sie nicht reichen. Ich stand derweil daneben. Es gab keine Anzeichen, dass die Bestrickte mich wahrnahm. Sie schien die einzige Person auf diesem Markt zu sein, die so etwas wie Eltern und einen Mann besaß, und die Zeit, als man Delikatessen nur abgezählt bekam, war auch vorbei. Als der Lattich für die zweite Tüte schon zusammengekratzt werden musste, sagte die Gesundheitsbewußte, sie brauche MINDESTENS noch mal soviel. Nun mag die Arme wirklich in Salatnot, meine Begehrlichkeit nicht erkennbar gewesen und es außerdem purer Zufall sein, daß sich beides so kurz hintereinander ereignete. Trotzdem zeigt es doch eines: wir sind noch immer sehr ins eigene Universum verstrickt.

Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Antje Rávic Strubel

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