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Landeshauptstadt: „Die Hemmschwelle sinkt“

Sozialarbeiter Voehse fordert politische Aufklärung

Stand:

Herr Voehse, ist die aktuelle Gewaltdiskussion auch in Potsdam angebracht?

Sehr wohl ist sie das. Schon deshalb, weil sich die Qualität der Gewalt seit einigen Jahren tatsächlich verändert hat. Allerdings gehen die Verantwortlichen in Politik und Polizei fälschlicherweise davon aus, dass die Probleme in Potsdam beispielsweise mit der Inhaftierung „führender Köpfe“ obsolet sind. Fakt ist aber, dass sich insbesondere die rechtsorientierte Jugendszene in der Stadt neu organisiert. Aber Gewalt ist natürlich nicht nur ideologiegebunden; Gewalt offenbart sich auch in Potsdam zunehmend unter Missachtung der eigenen und fremden körperlichen Unversehrtheit. Das zeigt sich in Diskotheken, aber auch in Schulen

Sinkt also die Hemmschwelle?

Das kann ich auf alle Fälle bejahen. Gewalt geschieht mittlerweile vornehmlich mit Hilfsmitteln wie Messern oder Bierflaschen. Jugendliche in bestimmten Gebieten wie Drewitz oder Neu Fahrland rüsten sich bereits präventiv mit Pfefferspray oder auch Schlagringen aus, um für Angriffe gewappnet zu sein. Nachtritte bei bereits am Boden liegenden Opfern sind wiederholt vorgekommen. Die Verletzungen der Opfer werden massiver.

Manche meinen, dass auch Computerspiele daran schuld sind. Was löst aus Ihrer Sicht die Gewalt Jugendlicher aus?

Dies gehört zu den regelmäßig angeführten Gründen: Computerspiele, Alkohol, Filme Natürlich können solche Faktoren einen Verstärker bilden, müssen aber nicht. Die Schere zwischen Arm und Reich sowie Bildungsdefizite kommen einer Begründung näher. Ich sehe als Ursachen der Gewalt auch mehr die veränderte Definition Jugendlicher von ihren Lebensvorstellungen. Als stark von Medien beeinflusstes, komsumorientiertes Publikum sind sie leichter manipulierbar als Ältere: So können Nachrichten über Attentate zusammen mit der Show- Down-Vorstellung aus Action-Filmen als Anreiz gesehen werden, sie in ihrer Erlebniswelt zu „kopieren“. Die Massaker an Schulen zeigen, dass ein neuer Typus von jugendlicher Gewalt entsteht, der unter Vernichtung von Leben sein Rechts- und Unrechtsempfinden ausdrückt. Ähnliches geschieht, wenn sich Gruppen gegenüberstehen, die sich aus vermeintlich politischen oder anderen Gründen massiv attackieren: Auch da ist es der Wunsch nach der Umsetzung eigener Rechtsvorstellungen, was darauf hinweist, dass unsere Rechtsordnung für junge Menschen zunehmend bedeutungslos wird.

Was sollte dagegen geschehen?

In der Pädagogik sehe ich besonders Defizite in Sachen politischer Aufklärung. Statt sich etwa über die starke Rechtsorientierung von jungen Menschen aufzuregen, sollte man dies als Orientierungsversuch zur Erklärung der Welt begreifen. Daraus erwächst die Verantwortung der Pädagogen selber zur politischen Autorität zu werden. Allerdings sind die pädagogischen Fachkräfte in ihrer Vorstellung von Sozialarbeit auf ihren Mikrokosmos des Arbeitsplatzes und dessen Erhalt fixiert und für diese Problematik nicht politisch sensibilisiert. Das sehe ich auch in Potsdam: Es gab eine Debatte, bei der es aber vor allem darum ging, die geförderten gewaltpräventiven Projekte als ausreichend zu legitimieren.Deshalb fordere ich auch eine Diskussion, die ohne den Seitenblick auf eigene Projekte verläuft.

Das Interview führte Henri Kramer

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