zum Hauptinhalt

Homepage: Die Schuld der Angehörigen

Der Historiker Götz Aly sprach in der Gedenkstätte Lindenstraße über die Euthanasiemorde der Nazis an psychisch Kranken

Stand:

Offiziell begann das Morden am 18. August 1939. An diesem Tag trat der Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagenbedingter schwerer Leiden seinen Dienst an. Äußerlich war es eher ein Ämtchen, wie Götz Aly am Montagabend in der Potsdamer Gedenkstätte Lindenstraße, wo vor 80 Jahren das Potsdamer „Erbgesundheitsgericht“ erstmals tagte, anmerkte. Der Historiker war im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Menschen unter Diktaturen“ vom Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) eingeladen worden, um über die Euthanasiemorde an psychisch Kranken während der NS-Zeit zu sprechen. Aly hat zuletzt mit seinem Buch „Die Belasteten“ einige Aufmerksamkeit erregt. In seinem Vortrag konzentrierte er sich auf die (Mit-)Schuld der Angehörigen.

Die Behörde, angesiedelt in der Berliner Tiergartenstraße 4, war zwar klein, aber äußerst effektiv. Die von ihr ausgehende, in der Forschungsliteratur schlicht T4 benannte Aktion hat bis zum Sommer 1941 mehr als 70 000 Menschen das Leben gekostet. Ein Gesetz lag diesem Morden nicht zugrunde. Es gab lediglich Handlungsanweisungen und das Ziel, die Kosten für das staatliche Gesundheitssystem angesichts des angezettelten Krieges zu minimieren. Sich vermeintlich „nutzloser Esser“ zu entledigen schien dafür ein probates Mittel. Innerhalb von nur zwei Jahren konnten so zahlreiche Psychiatrien in normale Krankenhäuser umfunktioniert werden.

Grundlage war lediglich ein Auftrag Hitlers zur „Aktion Gnadentod“, der, wie Aly ausführte, penibel ausgeführt vor allem eines belegte: dass das Töten unzähliger Menschen inmitten der Gesellschaft möglich ist, ohne dass es wesentliche Proteste aus der Bevölkerung gibt. Die Verschleierungsstrategien müssten nicht einmal stichhaltig sein, es genüge eine schwammige Rhetorik – statt von Tötung wurde von Lebensunterbrechung gesprochen, hinzu kam die Fälschung der Todesursachen, um das Gewissen der Menschen zu beruhigen und Nachfragen zu verhindern.

Die Euthanasie an psychisch Kranken konnte zudem auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz bauen. Eine Befragung von 200 betroffenen Eltern etwa aus dem Jahre 1920 belegte, dass 73 Prozent „die schmerzlose Abkürzung des Lebens“ ihrer in Anstalten lebenden Kinder befürworten würden. Nur die Verantwortung dafür wollten die meisten nicht übernehmen. Darauf aufbauend entwickelte der Leibarzt von Adolf Hitler, Theo Morell, einen Fragebogen, der an die Ärzte verschickt wurde, um die Anzahl der Todeskandidaten zu sondieren. Gefragt wurde nicht etwa nach medizinischer Diagnostik, sondern ganz pragmatisch nach der Verweildauer der Patienten, nach ihrer Arbeitsfähigkeit und wie oft die Kranken besucht würden.

Entsprechend erwies sich, dass ein enger Familienzusammenhang für die Anstaltsinsassen lebensrettend sein konnte. Vierzig Prozent derer, die überlebten, wurden von ihren Angehörigen regelmäßig besucht. In den wenigen Fällen, wo die Nächsten ausdrücklich gegen die „Verlegung“ der Patienten protestierten, wurden diese nicht umgebracht. Allerdings engagierten sich weniger als ein Prozent so für ihre Nächsten.

Die zum Tode Ausgesonderten wurden in Gaskammern umgebracht, die Todesstätten standen mitten in Deutschland. Der sprunghafte Anstieg der Mortalitätsrate in psychiatrischen Anstalten konnte der Gesellschaft kaum verborgen bleiben. Doch erst als der Bischoff Clemens August von Galen in mehreren Predigten im August 1941 die offensichtlichen Tötungen öffentlich anklagte, wurde die Aktion T4 eingestellt – wenigstens vorübergehend. Wie sehr selbst die Betroffenen ahnten, was ihnen bevorsteht, belegen eindrücklich ihre Briefe: „Ich lebe wieder in Angst, weil die Autos wieder hier waren“, schreibt ein Patient im November 1940. „Die Regierung will nicht mehr so viele Anstalten, und uns wollen sie auf die Seite schaffen.“ Lene Zade

Lene Zade

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })