POSITION: Die Schulen haben Gestaltungsspielräume
Die Vertretungsreserve in Potsdam hat einen Wert von etwa 700 000 Euro Von Ulrich Rosenau
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Die PNN forderte in einem Kommentar, „Unterrichtsausfallstunden in der Schule sollte es gar nicht geben“. Der Autor verglich die Schule mit dem Nahverkehr: „Hat schon mal jemand gehört, dass der Linienbus nicht kommt, weil der Busfahrer erkrankt ist?“ Vergleiche hinken oft; es lohnt sich, genauer hinzuschauen.
Im Busfahrplan steht zwar, wann ein Bus der Linie 605 kommt, nicht aber, dass der Fahrer Lehmann heißt und es sich um den Bus P–VB 472 handelt. Im Stundenplan der Schule steht, dass dienstags um 11.50 Uhr Frau Schulze Englisch unterrichtet. Wenn der Busfahrer Lehmann Urlaub hat, fährt ein anderer Fahrer; ist der Bus P–VB 472 in der Werkstatt, wird ein Ersatzwagen eingesetzt. Der Fahrgast merkt nichts und ist zufrieden. Wenn die Lehrerin Schulze krank ist, fällt der Englischunterricht bei ihr aus. Zwar übernimmt Herr Meyer die Klasse und unterrichtet Mathematik – ob die Schülerinnen und Schüler nun glücklich sind oder nicht, hängt wahrscheinlich von der Beliebtheit von Frau Schulze und Herrn Meyer ab, der Wechsel fällt aber auf und landet in der Statistik.
Wer ist Herr Meyer? In der Regel ein Lehrer der Schule. Genauso wie der Ersatzbusfahrer nicht Däumchen dreht, bis er einmal einspringen muss, sondern je nach Lage des Dienstplanes eingesetzt wird, ist es auch in der Schule: Es gibt keine Reservelehrer, die auf Vertretungsfälle warten, sondern nur Lehrkräfte, die planmäßig eingesetzt werden. Wie können sie dann aber für andere einspringen? Kurzfristig passiert das durch Mehrarbeit, die entweder verrechnet oder zusätzlich bezahlt wird. Meist wird eine Lehrkraft aber von anderen Aufgaben in der Schule freigestellt, um Unterricht vertreten zu können.
Wie ist das zu verstehen? Das Personal einer Schule wird nur zu etwa zwei Drittel für den Unterricht nach Stundenplan benötigt. Das dritte Drittel wird verschieden verwendet, zum Beispiel auch für Verwaltungsaufgaben, für freiwillige Arbeitsgemeinschaften, Förderung schwacher oder besonders begabter Kinder, die Teilung von Klassen in einzelnen Fächern oder für Angebote im Rahmen einer Ganztagsbetreuung. Um beim Vergleich zu bleiben: Neben den im Fahrplan aufgeführten Bussen fahren Zusatzbusse, denn die Fahrer und die Busse sind ja vorhanden, warum soll man sie dann auf dem Betriebshof stehen lassen? Wenn nun Fahrer oder Bus eines fahrplanmäßigen Busses ausfällt, wird einer dieser Zusatzbusse genommen, um keine Lücke im Fahrplan entstehen zu lassen. Dumm ist nur, dass sich viele Fahrgäste an den Zusatzbus gewöhnt haben und nun Alarm schlagen. So ist es auch in der Schule. Wenn kurzfristig pädagogische Zusatzangebote – bei Herrn Meyer zum Beispiel eine Informatik-Arbeitsgemeinschaft – ausfallen, damit Frau Schulze vertreten werden kann, wird Alarm geschlagen. Übrigens: Wenn Frau Schulze langfristig ausfällt, wird eine Vertretung zusätzlich eingestellt; dann kann Herr Meyer auch wieder seine Arbeitsgemeinschaft fortführen.
Was heißt das in Zahlen für Potsdam? An allen öffentlichen Schulen in der Stadt werden wöchentlich 18 664 Unterrichtsstunden nach Stundenplan erteilt, dafür sind genau 700 Lehrerstellen nötig. Die Schulen haben aber Lehrkräfte im Umfang von 1032 Stellen in den Lehrerzimmern präsent. 332 Stellen werden also außerhalb des Stundenplans eingesetzt, davon 14 Stellen, die ausdrücklich als Vertretungsreserve gekennzeichnet sind und die besonders schnell und problemlos verfügbar sein sollen. Allein diese namentliche Vertretungsreserve hat einen Wert von etwa 700 000 Euro. Die über den Stundenplan hinausgehende Stellenausstattung der öffentlichen Potsdamer Schulen hat einen Wert von fast 16 Millionen Euro! Wer angesichts dieser Zahlen nun glaubt, mit 50 000 Euro eines Lehrerfonds etwas bewirken zu können, erinnert an das Mäuschen, das dem Arbeitselefanten anbietet, beim Lastentragen helfen zu wollen.
Die Schulen haben also Gestaltungsspielräume. Wenn Schulen diese nutzen, um den Ausfall von Kernunterricht zu vermeiden, so liegt darin kein Skandal, auch wenn der zeitweilige Wegfall einer Arbeitsgemeinschaft – siehe Lehrer Meyer – schmerzlich ist, weil man sich an das Zusatzangebot gewöhnt hatte.
Der Autor ist Leiter des Staatlichen Schulamtes Brandenburg (Havel) und für alle staatlichen Schulen in Potsdam, Potsdam-Mittelmark, Havelland und der Stadt Brandenburg verantwortlich.
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