Landeshauptstadt: Die Seele der Weinbergstraße
In Doris Wagners Laden ist der Kauf trotz Vollsortiment eher Nebensache
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Die Weinbergstraße ist sehr schmal. Die restaurierten Wohnhäuser aus der Gründerzeit stehen so dicht, dass im Sommer häufig aus offenen Fenstern Klaviermusik schallt. Hier liegt der kleine Lebensmittelladen von Doris Wagner. Ein richtiger Tante-Emma-Laden. Gleich nebenan befindet sich ein kleines und feines italienisches Restaurant. Aber irgendwie passt das zusammen, denn beide, der kleine Kiezladen und das Promilokal sind für sich eine Institution. Ein Schauspieler, der in der Nachbarschaft wohnt, sagte neulich: „So ein Laden ist so einzigartig, davon werden wir wohl unseren Kindern nur noch erzählen können.“ Ein Stück Alltagskultur ist da zwischen Montags und Samstag zu erleben. Wer hier seine Zeitung oder seine Brötchen holt, der hat begriffen, dass Geiz noch nie wirklich geil war. Denn Geiz macht die Menschen sehr einsam. Bei Frau Wagner und den wenigen Läden dieser Art, ist der Kauf eher Nebensache. Hier übt man sich in der Virtuosität des kurzen, pointierten Schnacks. Hier wird gelernt, einfühlsames Mitgefühl zu formulieren, wenn sich über Schicksalsschläge oder Katastrophen ausgetauscht wird, wie neulich noch, als die Hauptgasleitung von einem Bagger zerstört wurde.
Das freundliche Parlando mit Frau Wagner tut der Seele gut. Sicher, neu Zugezogene werden zunächst gemustert. Frau Wagner drängt sich nicht auf. Ihre dezente Schroffheit, eine Art aus Lebenserfahrung gespeiste Klugheit, ist zunächst abwartend. Man muss Frau Wagner erobern. Aber wer möchte schon wirklich gerne mit einem aufdringlichen „Lecker, lecker, lecker“ begrüßt werden?
Die erste Stufe zu ihrem Vertrauen hat der gewonnen, der von ihr in das Geheimnis der Brötchenvitrine eingeweiht wird. Wo gibt es diese Kästen noch? Schrippen, Mehrkorn- und Käsebrötchen liegen fein geordnet hinter Glas. Die Croissants gehören zu den besten in der Stadt. Sie sind am Wochenende so begehrt, dass sich samstags die bestellten Tüten um die Kasse stapeln. Mit einer natürlich an einer Kordel festgebundenen Kuchenzange soll man die Backwaren in der Vitrine nun durch einen schmalen Schlitz greifen und in einen Beutel legen. Die Hände zur Hilfe nehmen wäre ja unfein. Für dieses komplizierte Manöver allerdings ist gerade an einem Morgen eine gehörige Portion Hand-Augen-Koordination aufzubieten, um sein Lieblingsbrötchen sicher herauszufischen. Das gelingt nicht immer. Kommentarlos huscht Frau Wagner heran, zieht einfach die ganze Trennscheibe nach oben und macht so den Weg frei. Das ist der Weg in die Herzen.
Frau Wagner führt ein Vollsortiment. Eis, Joghurts, Tiefkühlspinat. Pizza. In ihrem Geschäft, von den Ausmaßen eher winzig, gibt es wirklich alles. Zum Beispiel Nähgarn. Haushaltswaren. DVDs. Einige skurrile Dekorationselemente freilich auch. Und Kleidung. Schaut man die Jacken und Pullover lange genug an, sind sie richtig schick. Oder Spiele, richtig interessante. Plötzlich entdeckt man das Spiel des Jahres 1996 im Regal. Für lange Winternächte. Wenn mal gerade das Gesuchte nicht da sind, lohnt es sich, Frau Wagner zu fragen. Keine Zwiebeln mehr im Fach? Frau Wagner verschwindet im Lager und bringt einen frischen Beutel. Zauberei. Die Bewohner der Gegend sind anspruchsvoll. Daher wird das Sortiment durch das hervorragende Zeitungsangebot, exotische Säfte und Espressopulver ergänzt. Eigentlich kann Doris Wagner fast alles. Man bekommt bei ihr Fahrkarten, kann Päckchen abgeben und Kleidung reinigen lassen.
Wenn der Paketbote in der Nachbarschaft niemanden zuhause antrifft, liefert er das Päckchen bei Frau Wagner ab. Jeder in der Gegend weiß das. Geld vergessen? Kein Problem, andermal. Irgendwie ist Frau Wagner eine Heldin. Fleißig bis zum Umfallen, bescheiden, immer da. Sie ist vielleicht nicht Deutschland. Sicher ist sie die Weinbergstraße. Und ihre Seele.
Matthias Hassenpflug
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