Landeshauptstadt: Die Stasi-Türen standen offen
Häftling Erhard Neubert erinnert an den Mauerfall
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Als der Konditor Erhard Neubert nach dem Mauerfall erstmals wieder Potsdam besuchte, führte sein Weg zunächst zum Stasi-Untersuchungsgefängnis in der Lindenstraße. Nicht zu fassen, die Tore standen offen, und der ehemalige Häftling konnte ungestört durch den Bau spazieren, den er zuvor nur aus der Perspektive der Zelle oder der Flurgänge zum Verhör kannte. Junge Leute hatten den Bau als nunmehriges „Haus der Demokratie“ in Besitz genommen und lächelten ungläubig, wenn sich der Besucher als ehemaliger Stasi-Gefangener vorstellte.
Gestern berichtete Neubert über seine Haftzeit im Potsdamer „Lindenhotel“. Der Zeitzeugenbericht war einer der spannendsten Beiträge in dem Programm, das die Projektwerkstatt in der Gedenkstätte Lindenstraße 54/55 zum 19. Jahrestag des Mauerfalls veranstaltete. Der Thüringer war schon als Jugendlicher wegen versuchter Republikflucht zu fast zwei Jahren Haft verurteilt worden. Seit 1968 im Potsdamer Interhotel als Patissier tätig, wiederholte er diesen Versuch, als er als 27-Jähriger zum Wehrdienst eingezogen werden sollte.
An der ungarisch-jugoslawischen Grenze gefasst, wurde Erhard Neubert in die Lindenstraße 54/55 eingeliefert. Hier fiel die Behandlung der Gefangenen gegenüber seiner ersten Haftzeit schon subtiler, wenngleich nicht weniger menschenverachtend aus. Der Mensch wurde zur Nummer, beispielsweise 33/1 für den in Zelle 33 auf der linken Pritsche liegenden Häftling, die Zellen waren schlecht beleuchtet, kaum belüftet, die Glasbausteinfenster undurchsichtig und nicht zu öffnen. Alle zehn Minuten spähte der Stasi-Wächter durch den Spion. Die Brille musste zur Nacht abgegeben werden, da sie angeblich die Möglichkeit zum Suizid bot. Aus dem gleichen Grund befand sich die Schnur für die Toilettenspülung außen im Flur und war nur vom Wachpersonal zu betätigen.
Dies alles konnte die Gedenkstätttenlehrerin Catrin Eich auf ihren Führungen durch das Gefängnisgebäude gestern den Besuchern demonstrieren, ist doch nach intensiven Forschungen zur Geschichte des Hauses nach 1945 eine Reihe von Zellen wieder so hergerichtet worden, wie sie während der Zeit der Nutzung durch den sowjetischen Geheimdienst und dann die Staatssicherheit aussahen.
1972 kam Erhard Neubert durch eine Amnestie frei und erreichte schließlich die Ausreise nach Westberlin. Im Vorjahr wurde er Mitbegründer und stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins für die Projektkwerkstatt. So möchte er dazu beitragen, anhand seines persönlichen Schicksals Schülern Kenntnisse über die jüngste deutsche Geschichte zu vermitteln. E. Hoh
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