Landeshauptstadt: Die Taschenlampe über dem Bettchen
Wegen seines Herzfehlers sollte der kleine Martin nicht älter als anderthalb werden – heute ist er 26
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1985 lag in der Post von Erich Honnecker ein Brief aus Westberlin. Geschrieben hatte ihn Peter Krumhauer, der das Staatsoberhaupt darum bat, seinen sechsjährigen Sohn Martin nach Potsdam zur Schule schicken zu dürfen. Denn Krumhauers Kind ist taubblind. Und während es nur eine halbe Stunde entfernt von der Charlottenburger Wohnung der Familie Krumhauer die Taubblindenschule des Oberlinhauses gab, existierte im Westteil der heutigen Bundeshauptstadt in den 80er Jahren nichts dergleichen.
Doch in dem Anwortschreiben, das Krumhauer später aus seinem Briefkasten zog, hieß es, dass die Warteliste für die Oberlinschule sehr lang sei und für den kleinen Martin kein Platz. Also ging er in Berlin auf eine Körperbehindertenschule, obwohl das „ziemlicher Unsinn“ gewesen sei, findet Vater Krumhauer heute. Denn der gesamte Unterricht „ging an ihm vorbei“, weil die anderen Schüler alle sehen und hören konnten.
Trotzdem war seine Einschulung ein wichtiges Ereignis, denn eigentlich hatten die Ärzte im Juli 1979 dem Neugeborenen nicht mehr als anderthalb Jahre zu leben gegeben. Gleich nach der Entbindung hatte die Hebamme der jungen Mutter, Susanne Stiegert-Krumhauer, ihr Baby auf die Brust gelegt, aber „es war so still“, erinnert sie sich. Zuerst hätten die Ärzte versucht, sie zu beruhigen, sie solle sich „keine Sorgen machen“ – doch nach zwei Stunden lief der Kleine blau an. Ein Notarztwagen fuhr ihn sofort in die Kinderklinik. Diagnose: Herzfehler.
Die ersten fünf Monate seines Lebens lag Martin im Krankenhaus. Eine Spezialmaschine pumpte ihm über einen Schlauch Muttermilch in den Magen, weil er zu schwach war, um gestillt zu werden. Die Eltern beobachteten den kleinen Jungen besorgt, misstrauisch: „Das Kind verdrehte die Augen“, erzählt Susanne Stiegert-Krumhauer, „wir wussten, dass etwas nicht stimmt.“ Und tatsächlich bescheinigte ihnen ein Arzt nach mehreren Wochen, dass Martin blind sei. Ihr Kind reagiere auf Licht, gab die Mutter zu Bedenken – wie alle stolzen Eltern hatten die Krumhauers ihr Baby ständig fotografiert. Und sobald der Apparat blitzte, riss Martin die Arme hoch. „Das bilden Sie sich ein, gute Frau!“, war die Antwort des Arztes. Tatsächlich jedoch ist ihr Sohn nur auf einem Auge blind, das andere hat eine Sehkraft von 15 Prozent. Und so war sein erstes Mobile eine Taschenlampe, die ihm seine Eltern ihm übers Bettchen gehängt hatten – in der eigenen Wohnung.
Eigentlich hatten die Ärzte den beiden prophezeit, dass ihr Kind außerhalb der Klinik „sehr schnell sterben“ würde, zumal es immer noch auf die Spezialmaschine angewiesen war. Aber Ingenieur Krumhauer baute eine tragbare Maschine, die sogar in den Kinderwagen passte. Und zu Hause blühte Martin auf. Nach anderthalb Jahren benötigte er die Maschine nicht mehr. Die steht heute bei Krumhauers im Keller. Und Martin – mittlerweile 26 Jahre alt – ist noch immer „extrem scharf“ auf Lampen, so sein Vater. Sobald er eine entdeckt, untersucht er sie. Er hat sogar eigene Wörter in der Zeichensprache für die verschiedenen Formen der Lichtquellen erfunden.
Seine ersten Wörter hat er in den USA gelernt, wo seine Familie zwei Jahre lebte, weil Krumhauer 1982 einen Job als Entwicklungsleiter für eine Computerfirma angenommen hatte. Für „Mama“ und „Papa“ verwendet er die amerikanischen Gesten – „ein zweisprachiges Kind“, meint Krumhauer und lacht. Für ihn ist Martin immer noch das „Mäuschen“ – vielleicht,weil er nicht erwachsen zu werden scheint. Zart sieht er aus, wie ein Junge, der gerade zwölf geworden ist.
Dabei arbeitet er nun schon in den Behindertenwerkstätten auf Hermannswerder. Nach Potsdam haben es die Krumhauers also doch noch geschafft, aber erst nach der Wende. Mit zehn bekam Martin einen Platz in der Oberlinschule und blieb dort 14 Jahre. Sein Vater gründete im Dezember 1999 den Förderverein „Freunde der Oberlinschule“. Wie der Papa ist auch Martin ein Computerfreak. Neben Lampen ist der Rechner, den ihm Peter Krumhauer gebaut hat, sein „liebstes Spielzeug“. Stundenlang sitze er mit seiner dicken Brille ganz dicht vor dem Gerät und ordne begeistert Bildern die entsprechenden Wörter zu. Krumhauer, der seit 1984 als Professor an der Technischen Fachhochschule in Berlin lehrt, freut sich schon auf seine Pensionierung in der übernächsten Woche. Denn er hat „sehr viel vor“: Für die Oberlinschule möchte er einen Lerncomputer für taubblinde Kinder entwickeln.
Die Krumhauers sind glücklich. Natürlich sei, als sie von den Behinderungen ihres Sohnes erfahren haben, „die Welt zusammen gestürzt“, sagt Krumhauer. Aber nach einiger Zeit hätten sie gemerkt, dass Martin ihnen „sehr viel mehr gibt als er nimmt“. Sie führten ein relativ normales Familienleben – „nur intensiver und mit mehr Sorgen“.
Juliane Wedemeyer
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