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Landeshauptstadt: Die Zahlenfrau

Renate Fiedler rechnet gern – und zwar ehrenamtlich. Dafür zeichnete die Volkssolidarität sie aus

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Renate Fiedler rechnet gern – und zwar ehrenamtlich. Dafür zeichnete die Volkssolidarität sie aus Sie sitzt ganz weit hinten in dem großen Saal im Hotel Mercure, in der letzten Reihe. Unauffällig, weiß gestreifte Bluse, grüne Stoffhose, grau gewelltes, kurzes Haar, wartet sie darauf, nach vorne zum Mikrofon gerufen zu werden. Darauf, dass ihr der Mann im Anzug, Harald König, der Geschäftsführer der Volkssolidarität, eine der neun grünweißen Ehrenurkunden überreicht, als Dankeschön für ihre ehrenamtliche Tätigkeit für den Verband. Die 67-Jährige ragt aus der Reihe der acht Frauen, die mit ihr ausgezeichnet werden, heraus. Renate Fiedler ist etwas größer als die anderen. Sie blickt schüchtern in die Runde, sie ist es nicht gewohnt im Mittelpunkt zu stehen. Vielleicht wird sie später, wenn sie an dem gereichten Sekt genippt hat, etwas lockerer. Vielleicht wird sie sogar zu der Musik des „Duo Dance Mix“ tanzen. Sie geht gerne tanzen. Die Frau neben ihr spricht sie an, endlich lächelt Renate Fiedler. Eigentlich ist es nichts Besonderes, was sie für die Volkssolidarität macht, erzählt sie am Tag vor der Auszeichnung. Sie sitzt in praktischen Baumwollhemd und Jeans in einem Potsdamer Café und trinkt italienischen Cappuccino. Sie ist Hauptkassiererin ihrer Ortsgruppe, verrechnet viermal im Jahr die Ausgaben (gekaufte Geburtstagsblumensträuße, Kosten für Kaffee und Kuchen, Bastelmaterial und Sonstiges) mit den Einnahmen, (Spenden und Mitgliederbeiträge) und schickt die Rechnungen mit den Quittungen im Anhang an die Verwaltung. Mehr nicht. Das braucht zwar seine Zeit, aber das macht ihr nichts aus. Sie hat mehr als 15 Jahre gerechnet. Nachdem sie ihren Verkäuferinnenjob an den Nagel gehängt hat, im Büro von Tankstellenbetreiber Minol. Die Abrechnungen der Volkssolidarität sind dagegen keine allzu große Anstrengung. Seit sieben Jahren ist sie Rentnerin. Jemand aus ihrer Ortsgruppe muss mitbekommen haben, was sie früher gemacht hat, sie wurde gefragt, ob sie den frei gewordenen Kassierer-Posten übernimmt. Warum nicht, hat sie gedacht. Sie scheint wie geschaffen für den Job. Sie ist sparsam, kann gut mit Geld umgehen, hat fast noch nie Schulden gemacht. Nur einmal. Zu DDR-Zeiten. Da hat sie sich ein Radio mit Plattenspieler geleistet, auf Pump. Das Gerät hat ihr großen Spaß gemacht. Sie hat alle Raten ohne Schwierigkeiten abbezahlt. Trotzdem. Sie würde sich nie wieder etwas kaufen, was sie sich nicht leisten kann. Die Jugend von heute wird es da einmal viel schwerer haben als wir, sagt sie. „Die haben alles, mussten nie verzichten“. Vielleicht wird sie sich heute im Mercure, zur Feier des Tages, einmal etwas zu Essen bestellen. Auf den Tischkarten des Hotels werden Kartoffelsuppe, Ragout und Knackwürste angeboten. Renate Fiedler wurde in Oberschlesien geboren. Ihr Vater arbeitete beim Zoll, sie zogen oft um, zuerst nach Leipzig, 1947 nach Potsdam. Hier ist sie mit ihren Eltern und den beiden Schwestern aufgewachsen. Die Eltern sind mittlerweile verstorben, sie lebt allein in einer Wohnung in der Waldstadt. Eine eigene Familie hat sie nie gehabt. Einsam fühlt sie sich nicht. Sie füllt den Tag mit Terminen, besucht die Schwester in Wilhelmshorst, hilft ihr den Garten zu pflegen. Sie geht zu Veranstaltungen der Volkssolidarität, besucht alte Menschen in der Nachbarschaft, kauft für sie ein, plaudert mit ihnen. Sieben Tage braucht sie um ein Rätselheft zu lösen. Ein paar Mal ist sie auch bei Reisen der Volkssolidarität mitgefahren, nach Süddeutschland, Italien. Nach Mallorca oder gar Amerika will sie nicht. Das ist zu teuer. Und zu weit weg. Sie hat zwar nichts gegen Neues. Jeden Tag sieht sie sich im Fernsehen die Nachrichten an. Aber sie findet das Abenteuer lieber direkt vor der Tür, im Alltag. Der ist ihr spannend genug. Und es passiert ja auch einiges. So wie heute. 120 Gäste applaudieren, als sie die Ehrenurkunde entgegennimmt. Ein besonderer Tag.

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