Sport: Die Zeit läuft
Die paralympischen Schwimmer des SC Potsdam wollen sich im April für die Europameisterschaft qualifizieren. Keine leichte Aufgabe bei der zwangsweisen Tingeltour durch Potsdams Hallen
Stand:
Die Tage werden länger, die Wochen anstrengender. Wenn Felicia Laberer zu ihrem ersten Training will, das um 7 Uhr beginnt, muss sie 6.30 Uhr in der Straßenbahn sitzen und schon lange aufgestanden sein. Felicia ist Schwimmerin beim SC Potsdam, zwölf Jahre alt, und sie benötigt außerhalb des Schwimmbeckens eine Beinprothese, um sich zu bewegen.
Im August 2012 ist die junge Leistungssportlerin aus Berlin in das Internat der Sportschule nach Potsdam gezogen und trainiert in der paralympischen Schwimmgruppe von Dörte Paschke. Der Grund für ihre Entscheidung pro Potsdam? „Eigentlich bis letztes Jahr die guten Wege“, sagt Felicia. Kurze Wege am Luftschiffhafen – mit diesem Pfund wucherte die Sportstadt Potsdam bis zum Dezember 2013, als die Schwimm- und die Leichtathletikhalle im Luftschiffhafen wegen Einsturzgefahr geschlossen wurden, und es wurde von Schülern und Eltern angenommen. Doch seit Dezember fahren die Sportler durch die Stadt, manche bis nach Geltow – hin und her zwischen Internat, Training, Schule, Training, Internat. Was sonst auf einem Fleck war, ist jetzt in ein logistisches Puzzlespiel zerfallen.
Dörte Paschke setzt es jede Woche neu zusammen, für fünf Bundeskader und zehn weitere Sportler der Sportschule. Auf vielen A4-Zetteln finden sich, tabellarisch aufgelistet und bunt abgegrenzt, Trainingszeiten und -orte. Viel Brauhausberg, ein wenig Olympiastützpunkt und Schwimmhalle am Stern – so sieht die aktuelle Woche aus. Fahrweg: Mehr als 100 Kilometer. Die Einheiten heißen „Land“ und „Wasser“, es gibt Mittagspausen, Belastung und Regeneration zu berücksichtigen. Die Fahrten durch die Stadt, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und manchmal auch mit dem Internats–Shuttlebus, sieht die Trainerin dabei nicht als Regeneration an. Einige ihrer Schützlinge trainieren deshalb weniger.
Auch die Kommunikation leidet: Teamsitzungen gibt es eher am Beckenrand, Austausch mit den Kollegen, die für die nichtsportlichen Fächer zuständig sind, ist schwer bis gar nicht möglich. Trainings- und Hallenpläne entstehen im Café. Und das, was an Sportprüfungen vorgeschrieben ist, wird hier und da als Blockunterricht durchgeführt, manches im Trainingslager. Badminton wird deshalb auf Lanzarote unterrichtet.
Am Dienstagmorgen um 9 Uhr, sind Sportler und Trainer im Heber-Keller der Schwimmhalle am Brauhausberg zusammengekommen. Wo sonst die Zweitliga-Gewichtheber des AC Potsdam reißen und stoßen, leitet Christian Prochnow die „Land“-Einheit. Ballspiel am Anfang, später Übungen auf den Matten, um die Muskeln zu stärken, auch mit Gewichten. Christian Prochnow, 15. der Olympischen Spiele 2008 im Triathlon, ist seit September 2013 und damit schon vor der Hallenschließung als Trainer dabei. Jetzt ist es nötiger denn je, dass sich Arbeit und Planung auf mehrere Schultern verteilen.
Die Woche ist etwas ruhiger als sonst, die Hallenzeiten nicht so begehrt. Es sind Ferien, das Schulschwimmen entfällt. Aber die Probleme, vor denen die Schwimmer stehen, bleiben groß. „Wenn die Halle im Mai wieder aufmachen sollte, sind alle Messen gesungen“, sagt Trainerin Paschke, die ihre Schützlinge mal auf 25 Meter, mal auf halber Beckenbreite, also etwa 20 Meter, die Bahnen ziehen lässt. Ende April wird in Berlin die Qualifikation für die Europameisterschaft im August in Eindhoven ausgetragen, auf einer 50-Meter-Bahn. Normzeiten sind zu unterbieten, nicht nur für eine Teilnahme an der EM, sondern auch für den eigenen Status als Bundeskader, an dem staatliche Unterstützung hängt.
„Ich mache mir wirklich Gedanken, ob ich es schaffe“, sagt Klaus Steinhauer. Der 17-Jährige will die Jugendnorm erfüllen, es wäre „wichtig fürs Wettkampf-Feeling, wenn ich mitfahre nach Eindhoven“. Mehrere Schwimmstunden und richtiges Krafttraining fehlt ihm, obwohl er 5.40 Uhr aufsteht und 20.30 Uhr nach Hause kommt – um Hausaufgaben zu machen. Auch sein Tag dehnt sich, ohne dass er mehr trainiert. „Es wär bestimmt mehr drin, wenn wir am Luftschiffhafen trainiert hätten“, ist Steinhauer überzeugt. Er kam vor rund 18 Monaten aus Schwerin nach Potsdam, so wie Trainerin Paschke vor drei Jahren. Julian Erxleben sieht es ähnlich. „Es wird Zeit, dass die Halle wieder geöffnet wird“, sagt der 17-jährige vierfache Jugend-Weltmeister, „wenn es sich weiter verzögert, wird es kritisch.“ Am meisten fehlt vielen der Sportler der Strömungskanal.
Aber noch bleiben fast alle dabei. Abgesprungen ist nur eine Wolfsburgerin, bei der die Hallenmisere die Entscheidung mit beeinflusst hat. Die Schüler beschweren sich nicht, die Eltern sind „erstaunlich ruhig“, sagt Paschke, es kamen sogar gute Wünsche aus den Elternhäusern.
Die schwierigen Bedingungen – „rausreden möchte ich mich damit nicht“, sagt Torben Schmidtke, Silbermedaillengewinner der Paralympics 2012 in London. Am Wochenende will der 26-jährige Bundespolizist beim Wettkampf in Chemnitz die EM-Norm packen. „Die Testergebnisse sehen schon ganz gut aus.“
Die Tage werden nicht nur für Torben Schmidtke lang. Auch im Internat hat man sich auf die verlängerten Sportlertage eingestellt. Dort hat die Mensa inzwischen von 5 Uhr bis 21.15 Uhr geöffnet. Dann herrscht für die 12-jährige Felicia Laberer schon Nachtruhe. Eigentlich – denn ihre Hausaufgaben hat sie um diese Zeit meist noch nicht fertig.
Ingmar Höfgen
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: