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Homepage: Diktat der Zeit

Die zweite Ausgabe der FH-Zeitschrift „echtzeit“

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Die zweite Ausgabe der FH-Zeitschrift „echtzeit“ Von Matthias Hassenpflug Zeitschriften sterben, Journalisten klagen. Und der Leser wird immer wählerischer. In diesen schlechten Zeiten kommt die zweite Ausgabe von „echtzeit“, einem Magazin von Studierenden der Fachhochschule Potsdam, in fast schon obszöner Opulenz daher. Anstatt neuer Bescheidenheit, kreischt ein Neonorange vom Titelblatt. Diese Sonderfarbe, beliebt beim Zeitgeist hörigen Gestalter, wechselt sich in den grafischen Elementen innerhalb des Heftes mit einem nicht minder trendigen Olive ab. „Legenden“ heißt das übergeordnete Thema, aber Achtung vor der doppelten Wortbedeutung. Man kann sich dem Heft nun nähern, indem man es ernst nimmt. Dann hätte man es vielleicht für 13 Euro im Internet bestellt (www.echtzeit02.de). Ernsthaftigkeit ist eine Leserhaltung, die angesichts von Informationsüberfluss und Medienkonkurrenz durchaus legitim erscheint. Der ernste Blick auf „echtzeit“ übersieht also zunächst, dass es sich hier wohl um eine subventionierte Spielwiese für Design- und Kommunikationsstudenten handelt und fragt nach dem Lesernutzen. Echtzeit, so heißt die naseweise Selbstdefinition, „definiert einen bestimmten Zeitraum: die Lesezeit.“ Daher gibt es auch keine Seitenzahlen, ein Institut, von dem man mit guten Gründen behaupten kann, es habe sich seit Jahrtausenden durchgesetzt, sondern es werden Lesezeiten angegeben, z.B. 01:52:56, wie es auf der ersten Seite steht. Vermutlich soll man also knapp zwei Stunden teure Lebenszeit mit dem Heft verbringen. Die zeitlichen Vorgaben beginnen gehörig die Nerven zu strapazieren. Zeitschriftenschmökern und eine tickende Uhr daneben? Will man das? Das Diktat geht weiter. Kleine Orientierungskästchen („Legenden“ eben) geben pseudotiefsinnige Handlungsbefehle: („Malen Sie die Umrisse Ihres persönlichen Paradieses auf“ und „Träumen Sie“). Die Clubschiff-Animationskultur findet so endlich Einzug in den Printbereich. Den alltäglichen Kampf zwischen Layouter und Texter geht bei „echtzeit unfair aus. Der Text erleidet unter der grafischen Besessenheit einen klaren Knockout in der ersten Runde. Vielleicht zu viel mit Blindtext gearbeitet? Hier scheint außer einer Message an andere Designer kaum ernsthaftes Interesse bestanden zu haben, das eigene Wort, den eigenen Gedanken, also das, weshalb man eigentlich liest, weiter zu geben. Ein Wust von Fußnoten („Legenden“!) zeugt von aufmerksamen Recherchen in Referenzwerken und Lexika, lähmt aber gute Ansätze, wie den Beitrag von Judith Schalansky über Kartografie. Geradezu dümmlich müssen im laufenden transkulturellen europäisch-arabischen Diskurs die Illustrationen und Texte zu fiktiven babylonischen Unternehmen erscheinen. So heißt es: „Firmenchef Perish Alef Ne-bukad ist einer der reichsten Männer des Landes (...) Die Herkunft des Vermögens ist geheimnisumwittert.“ Eine nur mit einem Fraktal ausgeschmückte Pausenseite irritiert nicht nur den Info-Junkie. Hier wird durchgehend lässig mit dem teuren Gut „Platz“ umgegangen. Nur Kunst darf das. Betrachtet man „echtzeit“ nun also einmal mit dem unernsten Blick und sieht den spielerischen Ansatz, erhält der Betrachter ein versöhnlicheres Bild. Eines sogar, das den bereits verliehenen Designpreis durchaus verdient hat. Wer akzeptieren kann, dass das Diktum „form follows function“ des Bauhauses ausgedient hat, benutzt den beigelegten grünen Folienstreifen mit Freude, um auch die kleinsten neonfarbenen Details noch zu lesen. Das wahre Juwel von „echtzeit“ findet man jedoch weder in Grafik noch im Text. Die Musik auf der beigefügten CD, die auch weitere Materialien enthält, ist wirklich sehr schön.

Matthias Hassenpflug

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