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Moses Mendelssohn und das deutsch-jüdische Bürgertum / Lesung mit Carola Stern

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Moses Mendelssohn und das deutsch-jüdische Bürgertum / Lesung mit Carola Stern Dorothea Schlegel war lange in ein Doppelleben gezwungen. Fast 20 Jahre lebte die 1764 als Brendel Mendelssohn in Berlin geborene Jüdin in einer aufgezwungenen Ehe. Nach ihrer Scheidung konvertierte sie zum Protestantismus, heiratete ihren Geliebten Friedrich Schlegel und konnte so – zumindest teilweise – ihre romantischen Ideale leben. Wie gesellschaftliche Entwicklungen Lebenswege prägen, hat Carola Stern nicht nur in ihrer programmatischen Autobiografie „Doppelleben“ aufgezeigt, sondern auch in ihrem Buch über Dorothea Schlegel, aus dem sie im Rahmen eines von der Potsdamer „Gesellschaft für Geistesgeschichte“ veranstalteten Symposiums im Alten Rathaus las. Das Symposium war eigentlich Dorotheas Vater, dem Philosophen Moses Mendelssohn und den Anfängen des deutsch-jüdischen Bürgertums gewidmet. Mendelssohn, Leitfigur der jüdischen Aufklärung in Deutschland, galt Staatsbürger- und religiöses Judentum noch als vereinbar. Er wurde jedoch in ein andersartiges „Doppelleben“ gezwungen: Obwohl als „deutscher Sokrates“ hoch angesehen, blieb ihm die akademische Anerkennung versagt und er musste seinen Lebensunterhalt als Buchhalter und Unternehmer bestreiten. Erste Räume, in denen sich das deutsche und das jüdische Bürgertum kurze Zeit nach Mendelssohn begegneten, waren die Salons von Henriette Herz und Rahel Varnhagen. In dieser „privaten Öffentlichkeit“ beobachteten jüdische und christliche Bürgerlichkeit einander neugierig bis argwöhnisch. Mendelssohn blieb, obwohl sich auch die meisten Juden philosophisch eher an Kant orientierten, geachtete Integrationsfigur jüdischer Kreise. Hannah Lotte Lund (Berlin) berichtete von der Bemühung Rahel Varnhagens, Mendelssohns Bibelübersetzung, die zwar in deutscher Sprache, jedoch in hebräischer Schrift erschienen war, auch in lateinischer Schrift zu veröffentlichen. Einen Strukturwandel der Öffentlichkeit sah daher François Guesnet (Potsdam) durch Mendelssohns Wirken manifestiert. Dieser sei zunächst an den absolutistischen Höfen als Fürsprecher für jüdische Angelegenheiten aufgetreten. Zunehmend habe er jedoch das politische Engagement der Bürger ins Zentrum seiner Tätigkeit gerückt. So sei die Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781) des christlichen Staatsbeamten Christian Wilhelm Dohm unter Mendelssohns Einfluss entstanden. Die Verschiebungen in den öffentlichen Debatten ließen sich aber auch, so der Berliner Historiker Johannes Schwarz, anhand der Entwicklungen der deutsch-jüdischen Presse nachweisen, die anfänglich in Hebräisch, doch zunehmend in deutscher Sprache publiziert wurde. Die jüdischen Aufklärer nach Mendelssohn sahen sich bereits als Teil der deutschen Öffentlichkeit. Noch Selma Stern (1890-1981), die „große alte Dame der deutsch-jüdischen Geschichtswissenschaft“ war, wie die Potsdamer Historikerin Irene Diekmann herausarbeitete, bestrebt, die seit Mendelssohn problematisierte „Doppelexistenz“ von Juden in Deutschland darzustellen. In ihrem Standardwerk „Der preußische Staat und die Juden“ (1925-1971), fügte Stern die Geschichte der Juden in die allgemeine Historiographie ein. Dank ungeheurer Kraftanstrengung schuf sie so auf 3750 Seiten die wissenschaftliche Grundlage jeder Beschäftigung mit der Geschichte der Juden in Preußen. Im Kapitel über Mendelssohn, das Stern nach dem Zivilisationsbruch des „Dritten Reichs“ schrieb, könne man, so Diekmann, ihre Auseinandersetzung mit der aufgezwungenen Doppelidentität deutscher Juden ablesen. Moritz Reininghaus

Moritz Reininghaus

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