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SAMSTAGScocktail: Drachenschlaf

Nicht jwd und auch nicht sonderlich versteckt“, sage ich zu den Freunden, denen ich vom Lieblingsspielplatz meines Sohnes erzähle. Aber als ich ihnen, die doch schon eine ganze Weile hier wohnen, den Weg dorthin beschreibe, klingt es, als wolle ich sie zu einem geheimen Ort lotsen.

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Nicht jwd und auch nicht sonderlich versteckt“, sage ich zu den Freunden, denen ich vom Lieblingsspielplatz meines Sohnes erzähle. Aber als ich ihnen, die doch schon eine ganze Weile hier wohnen, den Weg dorthin beschreibe, klingt es, als wolle ich sie zu einem geheimen Ort lotsen. Wie ich den denn ausfindig gemacht hätte. In diesem Viertel! Vermutlich sind sie bloß irritiert. Davon, dass die wenigen Kinder hier Melissa und Mercedes gerufen werden, oder angesichts der sechsgeschossigen Plattenbauten um uns herum. Sicher alles Junggesellenwohnungen: kaum Blumen auf den blau gestrichenen Balkons, dafür eine Partylichterkette, eine Stehleiter, ein paar Latten. Ein einsamer Raucher blickt hinunter zu uns, die wir unter blühenden Kirschbäumen und frisch gesetzten Platanen stehen, während unsere Söhne den Wiesenhügel hinaufrennen, auf dem ein Drache in der Samstagvormittagssonne döst, und über die meterlange Rutsche wieder hinuntersausen. Ach, und gleich dahinten die Havel? Ganz nah, aber unsichtbar hinter Büschen und Blättern, fahren Ausflugsdampfer vorbei. Ein leises Rauschen und Knacken wie von übergroßen Tieren im Dschungel.

Der Lieblingsspielplatz meines Sohnes! In Wahrheit treibe ich mich noch lieber dort herum als er. Das seltsam friedliche Zugleich von Hochhäusern, Butterblumenwiesen mit Kletterparcours und Kindergeschrei hat etwas Entwaffnendes. Alles hier stimmt mich milde. Als wäre ich schon achtzig und würde mich an meine eigene Kindheit wie an etwas weit Entferntes erinnern. Oder so, wie man an etwas Vergebliches denkt, an das, was hätte werden können.Vor dreißig Jahren gab es einmal Pläne, das Neubaugebiet, in dem ich damals wohnte, in ein Klein-Venedig zu verwandeln. Die Nuthe umgeleitet, Kanäle zwischen die Häuser gelegt, darüber Brücken, unter denen kleine Boote gondeln sollten. Ein Paradies fürs Volk. Natürlich ist aus all diesen Versprechungen nie etwas geworden, lief ich jahrelang durch eine Bauwüste zur Schule, musste ich mir den Sand abends kiloweise aus den Haaren schütteln und schwammen in der Nuthe alte Sofas und Flaschen statt Gondeln. Wenn mich also jetzt auf dem Drachenspielplatz regelmäßig sowas wie Glück anfliegt, heißt das, dass es sie also doch gibt, die Erinnerung an die Zukunft?

Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“.

Julia Schoch

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