Landeshauptstadt: Drei Bälle und viel Kraft
Oberlinschüler drehten einen Film. Der Weltfußballverband findet: Es ist einer der 100 besten weltweit
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Dass sein Fußballverein in Pritzwalk nur noch verliert ist Christophs Schuld. Er war der einzige, der Tore schießen konnte, doch seit Kurzem spielt der 17-Jährige, der in Babelsberg auf die Oberlinschule geht, nicht mehr mit. Er hatte keine Lust mehr, war ausgepowert, sagt er. Die Beine taten weh. Vom vielen Rennen: Über die Lange Brücke, durch den Park Babelsberg. Immer wieder musste der lange dünne Junge mit der Brille auf der Nase und dem Hörgerät hinterm Ohr Bälle wegschießen und ihnen hinterhersprinten. Alles für die Kamera.
Denn der Zehntklässler war Mitglied der Video-Arbeitsgemeinschaft, die die Oberlinschüler im vergangenen Jahr eigens für den Kreativ-Wettbewerb des Fußballverbands Fifa „Talente 2006“ gegründet hatten. Ein Jahr arbeiteten die sechs Jugendlichen an ihrem Film. Sie selbst spielen einen Ball von der Oberlinschule, vorbei an Potsdamer und Berliner Sehenswürdigkeiten ins Olympiastadion. „Wir lieben Fußball“ heißt er und wurde nun als einer der 100 besten von 1700 Wettbewerbsbeiträgen weltweit prämiert. Und Fußball lieben die Teilnehmer der Videogruppe tatsächlich. Claudia hat sogar schon mal bei Turbine Potsdam gekickt. Doch dann wurden die Probleme mit ihrem Asthma immer größer, erzählt sie. Nun spielt die 15-Jährige nur noch in den Unterrichtspausen auf dem kleinen Platz vor ihrer Schule – zusammen mit ihren Freunden, mit Christoph, Diana und Jean-Paul, der dem Ball nicht hinterher läuft, sondern fährt, weil er im Rollstuhl sitzt. Als dann Lehrerin Aenne Wood im vergangenen Jahr am schwarzen Brett den Aufruf zum Kreativ-Wettbewerb des Fußballverbandes Fifa „Talente 2006“ sah, wusste sie sofort, an wen sie sich wenden würde. Und die Pausen-Fußballer seien sofort Feuer und Flamme gewesen, erinnert sie sich. Sie hätten ein Theaterstück entwickeln, ein Gedicht, ein Lied schreiben oder ein Bild malen können. Fünf Kategorien standen zur Auswahl.
Doch die Schüler entschieden sich dafür, einen Film zu drehen. Zwar hatten allesamt keine Ahnung von Drehbüchern, Schauspiel oder Kameraführung. Aber sie kannten jemanden, der zumindest schon ein paar Mal eine Kamera in der Hand hatte: Dieter*. Der Siebzehnjährige durfte hin und wieder die Digital-Kamera seines Großvaters benutzen. „Eigentlich bin ich kein aktiver Fußballfan“, sagt er, aber für seine Mitschüler hinter der Kamera zu stehen, hat ihm dann offenbar doch Spaß gemacht. Er habe sie jeden Dienstag gefragt, ob wir uns das Bildmaterial endlich ansehen, so Lehrerin Wood. Er sei einer der Engagiertesten gewesen.
Dabei fühlt sich Dieter in Gruppen eigentlich nicht wohl. Er hat das Asperger-Syndrom, eine leichte Form des Autismus“. Der schmale Junge arbeitet lieber allein, tut die Dinge am liebsten auf seine Art und Weise. Im Mathe-Unterricht etwa, da entdecke er ständig eigene Lösungswege, sagt seine Lehrerin: „Manchmal ist er uns Lehrern in Mathematik oder Naturwissenschaften ein Stück voraus.“
Anstrengend war der Filmdreh für alle sechs Oberlinschüler. Ein ganzes Jahr haben die sie für den sechsminütigen Film benötigt. Drei Bälle haben sie in dieser Zeit verschlissen. Am Anfang des Streifens tragen die Jugendlichen noch leichte T-Shirts und kurze Hosen, zum Schluss dicke Anoraks. Zeit, Geduld und viel Kraft habe der Film den Jugendlichen abverlangt, so Wood. Sie mussten sich Drehgenehmigungen besorgen, für die Baustelle neben der Schule und für das Olympia-Stadion in Berlin, erzählt Jean-Paul. Und Experten suchen, die beim Schnitt helfen konnten. Sie haben an der Filmhochschule nachgefragt. Dort hieß es aber, dass die Studenten keine Zeit hätten, weil sie neben dem Studium bereits für bezahlte Projekte arbeiteten. Schließlich fanden die sechs einen anderen Mediengestalter, der unentgeltlich half.
Wenn der Film heute um 10. 45 Uhr im Olympia-Stadion beim Fifa-Jugend-Camp vor fast 28 000 Gästen präsentiert wird, ist Kameramann Dieter nicht dabei. „Ich wollte zwar“, sagt er. Doch eine so große Menschenansammlung verkrafte er nicht. Stolz ist aber auch der Einzelgänger auf das gemeinsame Werk. Umso mehr, weil alle sechs nicht so recht geglaubt hatten, dass sie zu den Gewinnern gehören könnten. Doch die Jugendlichen, unter ihnen auch einige mit Lernbehinderungen, haben es allen gezeigt. Und Fußball ist seit ihrem Sieger-Film an der Oberlinschule richtig beliebt, sagt Diana. Jetzt spielen nämlich viel mehr Schüler in der Pause mit.
*Name von der Redaktion geändert
Juliane Wedemeyer
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