SERIE: Ebbe und Flut auf dem Heiligen See Stern Stunde
Der Mond und die Gezeiten: Der Durchmesser des Gewässers bewirkt, wie hoch die Flut steigt
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Im gegenwärtigen Jahr der Astronomie berichten Potsdamer Astrophysiker regelmäßig in den PNN von ihren liebsten Himmelskörpern.
Sonne und Mond sind die einzigen Himmelskörper, die spürbare Kräfte auf die Erde ausüben: sie verursachen Ebbe und Flut, also die Gezeiten. Ebbe und Flut entstehen dadurch, dass der Mond aufgrund seiner Schwerkraft das Meerwasser horizontal entlang der Erdoberfläche zieht. Deshalb gibt es auf dem offenen Meer auch keine besonders hohe Flut, sondern vor allem die Strömung des vom Mond gezogenen Wassers, wie Seeleute es von alters her wissen. Der Mond hebt das Wasser also nicht nach oben, wie man manchmal hört. Denn so wenig man Wasser zusammenpressen kann, so wenig kann man es auseinander ziehen.
Weil Gezeiten durch die horizontale Verschiebung des Wassers entstehen, ist die Flut um so höher, je größer der Durchmesser des Meeres ist. Dagegen ist die Tiefe fast ganz egal. Es ist wie beim Becher Kaffee, den man im Zug trinkt: in der Kurve neigt sich die Flüssigkeitsoberfläche wegen der seitlich wirkenden Zentrifugalkraft. Und zwar gleich stark, ob der Becher nun voll ist oder fast leer. Entsprechend neigt sich das Wasser auf einem See oder Meer, wenn der Mond es in seine Richtung zieht.
Mit Newtons Gravitationsgesetz und ein wenig Geometrie kann man die Fluthöhe leicht berechnen, sie ist ein Zehnmillionstel mal dem Durchmesser des Gewässers. Nehmen wir grob 5000 Kilometer für den Abstand von New York nach Lissabon, also fünf Millionen Meter, so erhalten wir einen halben Meter für die Fluthöhe auf dem Atlantik; was recht genau stimmt. Und auf dem Mittelmeer? Das hat einige hundert Kilometer Durchmesser, also eine Fluthöhe von einigen Zentimetern. Und der Heilige See in Potsdam? Ein Kilometer Länge, also ein zehntel Millimeter Fluthöhe. Leider machen Wind, Wasserströmung und Verdunstung diesen kleinen Effekt zuschanden. Wir lagen aber nicht so falsch, nach der Flut auf dem Heiligen See zu fragen.
In der Realität funktionieren Ebbe und Flut dann doch nicht ganz so einfach. Auf dem Atlantik beginnt das Wasser durch die Mondanziehung hier früher, dort später zu strömen, und diese verschiedenen Wellen überlagern und verstärken oder schwächen sich gegenseitig. Die Gezeitenwellen bilden daher ein komplexes Muster. Auf entsprechenden Satellitenmessungen sieht der Atlantik wie ein schwingendes Paukenfell aus. Und an bestimmten Stellen hat das Wasser immer die gleiche Höhe, es gibt dort also weder Ebbe noch Flut. Man nennt sie Amphidromien. Dieses komplexe Gezeitenmuster wurden tatsächlich erstmals um 1870 auch auf einem See, dem Genfer See gefunden – der aber eine Länge von etwa hundert Kilometern hat.
In ferner Zukunft wird es einen Wechsel zwischen Ebbe und Flut gar nicht mehr geben: Wie wir jetzt immer nur dieselbe Seite des Mondes sehen, so wird auch die Erde dem Mond einmal immer dieselbe Seite zuwenden. Diese sogenannte gebundene Rotation ist Folge der Gezeitenreibung, einem von George Darwin entdeckten Effekt. Sein Vater Charles ließ ihn übrigens für sein Buch über Regenwürmer die Menge des jährlich weltweit vonWürmern produzierten Erdreichs ausrechnen. Der Mond wird dann Tag und Nacht an derselben Stelle des Himmels stehen und von vielen Regionen der Erde nie sichtbar sein. Wie man heute nach Norwegen reist, um die Mitternachtssonne zu sehen, wird man dann nach – wir wissen nicht, wohin – reisen, um einmal den Mond zu sehen.
Das Bild vom Mond (oben) wurde am OST-Teleskop in Golm gemacht. Das Foto besteht aus mehreren nebeneinandergesetzten Aufnahmen, da der Mond nicht in das Gesichtsfeld des Teleskops passt. Zwischen den einzelnen Aufnahmen – im Abstand von nur einigen Minuten gemacht – hat die Helligkeit des Mondes deutlich sichtbar geschwankt. An der Schattenlänge der Kraterwände könnte man die Kratertiefe abschätzen.
Der Autor ist Dozent am Institut für Physik und Astronomie der Universität Potsdam.
Achim Feldmeier
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