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Landeshauptstadt: „Egal, ob ich da bin oder nicht“

Wochenlang blieb ein Jugendlicher der Schule fern. Unentschuldigt. Die Mutter erfuhr davon zu spät.

Stand:

„Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn Olaf* seit dem 8. 11. 2002 bis zum heutigen Tag der Schule unerlaubt ferngeblieben ist.“ Als Marie Wahlandt* den Brief der Gesamtschule „Ernst Haeckel“ erhielt, schwänzte Olaf bereits vier Wochen lang. Obwohl dienstliche und private Telefonnummern bekannt waren, hatte die Mutter nie einen Anruf der Schulleitung erhalten. „Ich hätte doch meinen Sohn sofort zur Rede gestellt“, sagt sie – sauer darüber, dass die Allgemeinheit glaube, Schulverweigerer kämen nur aus Elternhäusern, die sich nicht kümmerten. Und dass die Politik sogar überlegt, die Eltern wegen der Schulpflichtsverletzung mit einem Zwangsgeld von bis zu 2500 Euro abzustrafen.

Der Fehler, sagt die Mutter, liege in ihrem Falle allerdings eher bei der Schule, die sie zu spät über die Schulabstinenz ihres Kindes informierte. Und dass, obwohl es eine genaue schulgesetzliche Festlegung der Verfahrensweise gebe, wie Katrin Kantak, Mitarbeiterin Landeskoordinierungsstelle Schule – Jugendhilfe erklärt. Laut Rundschreiben 31/01 des brandenburgischen Bildungsministeriums – welches eine verbindliche Weisung sei – sei die Schulleitung nach bereits vier Fehltagen eines Schülers zur telefonischen Kontaktaufnahme mit den Eltern verpflichtet. Bleibe diese erfolglos, seien die Erziehungsberechtigten unverzüglich schriftlich über das unentschuldigte Fernbleiben ihres Kinders zu informieren.

„Niemand hat sich dafür interessiert. Es war egal, ob ich da bin oder nicht“, erzählt Olaf, wie seine Schulverweigerung begann. Frau Wahlandt war gerade mit ihren beiden Söhnen und Lebensgefährten von Eberswalde nach Potsdam gezogen. Die inzwischen geschlossene Haeckel-Gesamtschule in Potsdam-West sei „langweilig und blöde“ gewesen, sagt der heute 18-Jährige. Keiner habe ihn so recht zur Kenntnis genommen. Das werde häufig als Grund für Schulabstinenz angeführt, weiß auch Johannes Egger, Leiter des Jugendhauses „Oase“ mit 45 Plätzen für Schulverweigerer. Die seien alle belegt, zu 80 Prozent von Potsdamer Jugendlichen. Laut einer Umfrage unter brandenburgischen Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I (bis einschließlich 10. Klasse) schwänzten 20 Prozent manchmal stundenweise, 5,6 Prozent manchmal tageweise und 2,6 Prozent oft tageweise den Unterricht.

Wenn er morgens zur Schule gebracht wurde, marschierte er durch das Gebäude und ging zum Hinterausgang wieder raus. „Ich bin dann stundenlang mit der Straßenbahn durch die Stadt gefahren“, erzählt Olaf. Als nach den ersten Fehltagen nichts passierte, machte er immer weiter. Sofortiges Ahnden und größere Strenge hätten ihn vielleicht vom Schwänzen abgehalten, meint er. Aber nicht nur die Haeckel-Schule reagierte laut Marie Wahlandt nicht schnell genug. Inzwischen ging Olaf an die Marie-Curie-Oberschule am Schlaatz. Auch hier blieb er dem Unterricht oft fern, zunächst noch entschuldigt durch seine Mutter. Dann summieren sich seine Fehltage in den Monaten September, Oktober und November vergangenen Jahres auf insgesamt 19. An schönen Tagen habe er die Zeit genutzt, um mit dem Fahrrad durch den Wald zu fahren. Über das unentschuldigte Fehlen ihres Kindes in Kenntnis gesetzt wird Marie Wahlandt Ende des Jahres. Wahrscheinlich habe der Junge die Briefe der Schule abgefangen, vermutet der Leiter der Marie-Curie-Oberschule, Dieter Degenkolbe. Seine Einrichtung, die gemeinsam mit dem Bus e.V. sogar ein eigenes Schulverweigerungsprogramm trage, protokolliere „penibel genau die Fehltage“ ihrer Schülerschaft. An jedem Monatsende eines Schulhalbjahres würden die Eltern dann schriftlich über die versäumten Unterrichtsstunden informiert, so Degenkolbe. „Eben weil wir wissen, dass man hinterher sein muss.“ Reagierten die Erziehungsberechtigten nicht auf die monatlichen Schreiben, werde noch einmal per Einschreiben eine Zusammenfassung verschickt.

Er könne sich nicht vorstellen, dass die Marie-Curie-Oberschule nur eine einzige Information an die Mutter geschickt habe, sagt auch der Leiter des Staatlichen Schulamtes Brandenburg (Havel), Ulrich Rosenau. Die Potsdamer Oberschule sei eine Einrichtung mit „einer schwierigen Schülerklientel“, so der Schulamtschef. Die Probleme seien vielfältig. Sollte ein „bürokratisches Versäumnis“ vorliegen, sei dieses „mit Nachsicht zu betrachten“. Seine Behörde habe jedenfalls tiefes Vertrauen in die Schulleitung, „wir begegnen ihrer geleisteten Arbeit mit großem Respekt“. Im Übrigen lenke die ganze Aufregung von der eigentlichen Problematik ab, ist Rosenau überzeugt. „Für das Fehlverhalten ihrer Kinder sind immer noch die Eltern verantwortlich“, so der Schulamtsleiter.

„Bei uns hängt ständig der Haussegen schief, weil ich nicht aufhöre, Olaf zur Rede zu stellen“, sagt Marie Wahlandt. Der vermisse nach eigenem Bekunden das Durchgreifen der Lehrer. Seine Schule sei schon ganz schön heftig. Es habe in seiner Klasse Taschenkontrollen gegeben, außerdem brüllten die Schüler durcheinander, die Lehrer zum Teil mit. Schule könne nicht besser sein als die Gesellschaft, sagt der Direktor, der einen zunehmenden Werteverfall wahrnehme.

Olaf hat gerade in einem zweiten Anlauf den Zehnte-Klasse-Abschluss geschafft – trotz vieler Fehlstunden. Jetzt würde er am liebsten Schiffsbau-Ingenieur oder noch besser Kindergärtner werden. Er habe schon ein Praktikum in einer Kindertagesstätte absolviert. Die Kleinen könne man noch lenken, sagt der 18-Jährige. „Bei mir geht das nicht mehr.“

*)Namen von der Redaktion geändert

Nicola Klusemann

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