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Homepage: Ein dunkler Fleck

Heimerziehung im Westen war Thema an FH

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Die Fotos, die im Hörsaal der Fachhochschule zu sehen waren, zeigten Menschen bei der Feldarbeit oder beim Torfstechen im Moor. Erst beim genaueren Hinsehen erkennt man, dass sich da Kinder und Jugendliche plagen. Und, dass sie von Aufsehern bewacht werden. Kinder, die nach dem Krieg ins Heim kamen, kannten nur eine Beschäftigung: „Arbeiten, arbeiten, arbeiten.“ Spiegel-Journalist Peter Wensierski, hat diese Fotodokumente für sein Buch „Schläge im Namen des Herren“ gesammelt. Die Erziehung der so genannten Fürsorgezöglinge sollte vornehmlich durch Arbeit erfolgen. Im Garten, auf dem Feld, in der Waschküche.

„Das größte Unrecht an Jugendlichen in der Nachkriegszeit“, wie Manfred Kappeler – Moderator des Thementages, den die Fachhochschule für ihre Sozialpädagogikstudenten organisierte – sagte, ist immer noch ein blinder Fleck in der Geschichte der Bundesrepublik. Das, was über hundert Studenten betroffen anhörten, will so gar nicht in das Bild einer demokratischen und fortschrittlichen Nachkriegsgesellschaft passen. Und es handelt sich nicht um einige Exzesse und Ausnahmen. In 3000 Heimen im ganzen Land wurde systematisch Unrecht begangen.

80 Prozent der Heime befanden sich in der Hand der Kirche. Zwangsarbeit, Einschüchterung, Psychopharmaka und Gewalt – bis hin zur „Besinnungszelle“, einem dunklen Verließ, in dem der Jugendliche in Einzelhaft über seine „Sünden“ nachdenken sollte. Systematisch, weil das Jugendfürsorgerecht die geschlossene Heimunterbringung so vorsah – bis in die siebziger Jahre hinein. Nur bei einem kleinen Bruchteil der Insassen handelte es sich tatsächlich um Waisen. Das Kinderheim drohte jedem, der „zu verwahrlosen“ drohte. In den sittenstrengen 50er und 60er Jahren waren das natürlich auch alle jene „Störenfriede“, die Beatmusik hören wollten und gegen die Eltern rebellierten.

Die Heime hießen „Zum guten Hirten“, wie in Münster, oder gehörten zu angesehenen Einrichtungen, wie die Bethel-Anstalten. Die Diakonie Freistatt ließ laut Wensierski ihre Insassen in einem regelrechten Arbeitslager Torf stechen.

Regina Eppert hat unter dem Namen Page über ihre Heimerfahrungen das Buch „Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend“ geschrieben und hat eine Betroffenengruppe gegründet. Sie konnte vierzig Jahre nicht über Kindheit reden. Auch, weil sie immer die Schuld bei sich suchte. Mit ihrer Schwester kam sie ins Vincenzheim in Dortmund, das von katholischen Nonnen geführt wurde. Bis heute weiß sie nicht, weshalb sie per Gerichtsbeschluss von ihrer Mutter getrennt wurde. Ein möglicher Grund: Eppert war früh schwanger geworden. Manchmal reichte für die Unterbringung im Heim der „fehlende Respekt“ vor der Mutter, wie Wensierski aus einer Akte zitiert. Oder, dass das Kind „du blöde Kuh“ zur Mutter gesagt hatte.

Eppert fällt es auch heute noch sichtbar schwer zu erzählen, wie sie für die Heirat entlassen wurde, um dann – weil das Paar noch nicht volljährig war – wieder zurück musste. Ihre Tochter Christine wurde von ihr getrennt und in die Säuglingsabteilung des Heims eingewiesen. Eine Stunde am Sonntag durfte Eppert zu ihr – bei gutem Betragen.

Der Thementag wurde zu einer praktischen Lehrstunde für die angehenden Pädagogen. Denn Peter Wensierski schilderte die Ergebnisse seiner Recherchen nicht als vergessene Geschichte, sondern versuchte immer, historische Kontinuitäten darzustellen. „Natürlich waren nicht alle Erzieher Nazis“, sagte er. „Die Kinder waren eher Opfer im Verdrängungsprozess zwischen Konservativen und Rebellierern“. Früher sprach man von „nicht-bildbaren Jugendlichen“, und heute, so Wensierski, wäre wieder die Rede von den „bildungsfernen Schichten“ und manch einer fordere schon wieder geschlossene Erziehungsanstalten.

Die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels kommt erst langsam voran. Juristisch ist das Unrecht nur noch selten zu verfolgen. Beteiligte sind verstorben oder die Taten sind längst verjährt. Mittlerweile gab es aber im Bundestag eine Anhörung, zu der auch Eppert eingeladen war.

Matthias Hassenpflug

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