Landeshauptstadt: Ein Kokon für die eigene Bilderwelt
Was Jana Kneppek zur besten Vorleserin macht und warum die Bibliothek mit Videospielen lockt
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Zerlesen und abgegriffen, vergilbt schon das Papier – wäre es nach dem äußeren Zustand ihres Buches gegangen, hätte Jana Kneppek beim Stadtentscheid zum Vorlesewettbewerb in der vergangenen Woche in der Bibliothek nicht punkten können. Aber es kam ja auf den Inhalt an, und den trug die Zwölfjährige so unbefangen und frei, so leicht und ungekünstelt vor, dass sie die Jury zur Siegerin kürte.
Das zerwurschtelte Exemplar ihres „Alfons Zitterbacke“ stammt aus der Bibliothek ihrer Großeltern. Man sieht der Ausgabe an, dass sie durch viele Hände gegangen ist und manche Nacht unter dem Kopfkissen eines Kindes verbracht hat. Der ostdeutsche Kinderbuchklassiker von Gerhard Holtz-Baumert gehört zu den Leseerfahrungen heutiger Eltern, die, wenn sie es gut meinen, ihre Kinder daran teilhaben lassen. Dass Jana so souverän vorlesen kann, verdankt sie all denen, die ihr schon frühzeitig Geschichten erzählt haben. Neben Oma und Opa war es vor allem die Mutter, die sie allabendlich mit seidenen Sprachfäden umspann und so einen Kokon schuf, in dem Jana ihre Fantasie nähren konnte. „Es gibt nichts, was das Buch als Wurzelboden der Fantasie ersetzen kann“, schrieb Astrid Lindgren und wusste: „Ein Kind mit seinem Buch allein erschafft sich irgendwo in den geheimen Kammern der Seele eigene Bilder, die alles andere übertreffen.“ Jana nennt es den inneren Film, der sich beim Lesen abspult und der es ihr so schwer macht, an der spannendsten Stelle das Licht auszuknipsen.
Heute weiß man, dass sich die Fähigkeit zur inneren Bilderzeugung ab dem 18. Lebensmonat entwickelt. Wenn ein Kind dazu Gelegenheit bekommt, kann es einen reichen Fundus an Vorstellungen anlegen, aus denen es später einzelne Teile und Merkmale herauslöst und schöpferisch zu neuen Dingen zusammensetzt. So viel leichter lässt sich der Umgang mit Buchstaben und Zahlen lernen, kann man auf einen großen Schatz verinnerlichter Bilder zurückgreifen.
Jana gehört in der Schule zu den Besten und schafft es ohne Mühe, im Monat noch fünf Bücher wegzuschmökern. Die holt sie sich aus der Kinder- und Jugendbibliothek. Deren Leiter Ronald Gohr freut sich über steigende Besucherzahlen. Dabei aber fällt ihm auf, dass das sprachliche Niveau der Kinder sinkt. „Manchen fehlen einfach die Worte“. In vielen Familien werde zu wenig gesprochen und kaum gelesen. Bilder würden nicht mit der eigenen Vorstellungskraft erzeugt, sondern allzu oft bequem übers Fernsehen konsumiert. Was kann die Bibliothek dem entgegensetzen? Regale voller Geschichten und Mitarbeiter, die nicht müde werden, darauf neugierig zu machen. Sie lesen Kita-Gruppen vor, laden Schriftsteller ein, führen Klassen durch die Räume, helfen beim Recherchieren für Schulprojekte und organisieren Vorlese- und Schreibwettbewerbe.
Ronald Gohr empfiehlt gern Bücher, die nicht nur spannend, sondern auch in klarer, poetischer Sprache verfasst sind. „Wer durch Harry Potter zum Lesen gekommen ist, dem gebe ich Alexander Wolkows ,Zauberer der Smaragdenstadt“ in die Hand.“ Dem Bibliothekar ist es wichtig, ein Verständnis für Literatur und damit das Sprachempfinden seiner Leser zu entwickeln.
Manchmal aber muss er überhaupt erst ein Interesse für das geschriebene Wort wecken und das gelingt ihm, so paradox es klingt, mit Videospielen. Damit lockt er Kinder ins Haus, die noch nie ein Buch gelesen haben. „Irgendwann schauen sie sich um, entdecken, dass es hier auch Zeitschriften gibt. Dann ist der Griff zum Buch nicht mehr weit.“ So wird die Bibliothek zum Ort des Lernens, denn Lesen erweitert den Wortschatz, hilft ohne Anstrengung komplexe Satzstrukturen zu verstehen, den Klang der Sprache aufzunehmen und schließlich eigene Worte zu finden. Unerlässlich für alle, die beim gerade begonnenen Storytausch- Wettbewerb mitschreiben, den die Bibliothek zum zweiten Mal organisiert. Potsdamer Schüler und Autoren arbeiten hier abwechselnd an einer Geschichte, ohne die Identität und den Plan des jeweils anderen zu kennen.
Längst hat auch Jana begonnen Geschichten und Gedichte zu schreiben. Was sie später mal werden will, weiß sie noch nicht. Für Traumtänze ist sie zu sehr Realistin. Sie steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Aber wenn alle Zwänge nicht wären, wenn sie es sich einfach nur wünschen dürfte, sie wüsste genau, was sie täte ...
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