Landeshauptstadt: Ein Stadtspaziergang im Jahre 1845
Mit der „Chronologie“ von Olaf Thiede und Jörg Wacker durch das Potsdam König Friedrich Wilhelms IV.
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Wir schreiben das Jahr 1845. Nicht einmal sieben Jahre steht der Potsdamer Bahnhof, mit Restauration und Kutscherwirtschaft, Wartehalle, Uhrenturm, Drehscheibe, Bahnschuppen mit Schmiede und Kohlenhalle ... Vom Bahnhofsgelände brechen die aus Berlin kommenden Besucher in die königliche Residenz auf. Diesen fiktiven Stadtspaziergang durch das Potsdam König Friedrich Wilhelms IV. ermöglicht, wie für jede andere Zeitspanne, die von Olaf Thiede und Jörg Wacker veröffentlichte „Chronologie als bisher umfangreichste Datensammlung der Geschichte Potsdams.
Beim Gang über die Lange Brücke fällt der Blick auf die Freundschaftsinsel. Noch keine zwei Jahrzehnte ist es her, seit dort die gegen die Desertion von Soldaten errichteten Palisaden gefallen sind. Die Potsdamer nehmen das Eiland in Besitz – gerade hat der Tabakhändler Gems ein Gartenlokal „Zur Freundschaft“ eröffnet, das der Insel den Namen geben wird. Im Hintergrund ragt an der Alten Fahrt auf dem Fabrikgelände des Zuckersieders Ludwig Jacobs der florentinische Turm auf, den er 1833 auf Wunsch des Königs durch Ludwig Persius hat erbauen lassen. Auf dem Alten Markt sind gerade die vier Ecktürme der neuen Nikolaikirche fertiggestellt worden, der Umbau des Palastes Barberini als Gesellschaftshaus für bürgerliche Kultur- und Kunstvereine hat begonnen. Am Stadtschloss vorbei biegt der Besucher in die Breite Straße ein. Vor zwei Jahren wurde sie durch rahmende Einfassungen und Vorgärten aufgeschmückt, jetzt sind junge Linden gepflanzt worden. Der König setzt den bereits 1833 von Peter Joseph Lenné vorgelegten „Verschönerungsplan“ konsequent um. Sein Gestaltungswille lässt das Stadtgebiet nicht aus. Und so bewegt sich der Besucher von Baustelle zu Baustelle. Am Ende der Breiten Straße sieht er das einer Moschee nachgebaute Dampfmaschinenhaus für die Wasserkünste von Sanssouci, im Park kann er den Aushub des Friedensteiches, die Umgestaltung des Marlygartens und den Baubeginn für die Friedenskirche beobachten. Das Grüne Gitter am Eingang gibt es noch nicht. Die nahegelegene Villa Liegnitz und das Zivilkabinetthaus stehen dagegen schon, wie überhaupt im gesamten Stadtgebiet ein solcher Nobelbau nach dem anderen wächst. Olaf Thiede und Jörg Wacker könnten ausgehend von ihrer „Chronologie die Teilnehmer des Stadtrundgangs auf den Spuren des „Romantikers auf dem Thron“ noch stundenlang durch Potsdam und Umgebung führen – zur 1842 an der Schwanenallee erbauten Königlichen Matrosenstation, zum 1843 entstandenen Proviantamt mit Mehlmagazin in der Leipziger Straße, in den Wildpark in der Pirschheide oder in den Babelsberger Park, wo die Erweiterung des Schlosses begonnen hat.
Der kleine Ausschnitt zeigt, welche erstaunlichen Möglichkeiten die „Chronologie bietet, detaillierte Kenntnisse über die Stadtgeschichte im Wandel der Jahrhunderte zu erwerben. Dies sei auch der jüngeren Generation zu empfehlen, meinen die Autoren. 811 Literaturtitel und 153 Karten haben der stellvertretende Gartendirektor der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Dr. Jörg Wacker und der Maler Olaf Thiede für ihr dreibändiges Werk ausgewertet, das für Potsdam und seine Umgebung zwischen Brandenburg und Berlin rund 13 000 Daten der Zeit von 800 bis 1918 erfasst. Dabei räumen sie ein, dass sie für das Mittelalter, wofür es nur wenige schriftliche Quellen gibt, auch umstrittene Interpretationen herangezogen haben. Die Bedeutung der „Chronologie“, mindert das allerdings nicht. Die Publikation sei eine Bestandsaufnahme aus der zur Verfügung stehenden Literatur und vernetze die Fakten nach dem ganzheitlichen Prinzip, erklären die Autoren. So könne die Komplexität der Zusammenhänge von 26 Fachthemen vermittelt werden.
Ein Stärke der Datensammlung ist, dass sie keine Idylle zeichnet. So wird beim Spaziergang 1845 deutlich, dass diese Zeit des industriellen Aufschwungs mit sozialen Härten verbunden war. In Nowawes grassierte das „Große Weberelend“. Modernere Produktionsmethoden machten 400 Familien arbeitslos, von 900 Webstühlen wurden 800 stillgelegt. Sogar die hungernden Kinder fanden sich zu einer Demonstration zusammen. Wenige Jahre später brach die 1848er Revolution aus, in der auch Potsdam mit einer Befehlsverweigerung von Gardesoldaten und dem Auftreten des 1849 erschossenen Maximilian Dortu Anteil hatte. Erhart Hohenstein
Thiede/Wacker, Chronologie Potsdam und Umgebung, Potsdam 2007, drei Bände, 1308 Seiten, 516 Abbildungen, 99,80 Euro, ISBN 978-3-00-021100-3
Erhart Hohenstein
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