Homepage: Ein „vergessener“ Krieg
In der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ legen Potsdams Militärhistoriker den achten Band vor Hitler in der Endphase: Nur noch eine Inszenierung des eigenen Untergangs
Stand:
Die Operationsgeschichte hat noch immer einen schweren Stand. Das zeigt die aktuelle Diskussion um die jüngste Veröffentlichung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam. Über 1330 Seiten und 89 Abbildungen und Karten umfasst der achte Band der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, in dem sich die sechs Autoren mit einem beinahe „vergessenen Krieg“ beschäftigen, wie Karl-Heinz Frieser in der Einleitung schreibt. „Die Ostfront 1943/44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten“ ist dieser Band untertitelt. Auf insgesamt zehn Bände ist die Reihe über den Zweiten Weltkrieg angelegt, ein Mammutprojekt in der modernen Geschichtswissenschaft.
„Vergessener Krieg“ deshalb, weil das Kriegsgeschehen an der Ostfront nach Stalingrad in der Geschichtswissenschaft bisher meist stiefmütterlich behandelt wurde und selbst die Schlacht bei Kursk im Sommer 1943 bis heute nicht von Legenden frei ist. Es ist ein Verdienst der Autoren, dass sie mittels akribischen Aktenstudiums manche dieser Legenden widerlegten. So zeigt Karl-Heinz Frieser in seinem Beitrag „Die Schlacht im Kursker Bogen“, dass das „Unternehmen Zitadelle“ nicht zum Grab der deutschen Panzertruppe wurde, sondern im Gegenteil ein Desaster für die russischen Truppen war. Doch die Führungskräfte auf russischer Seite verstanden es, diese Niederlage gegenüber Stalin als Erfolg zu verkaufen, um so die eigene Haut zu retten. Der weitaus größere Verdienst liegt jedoch darin, dass in „Die Ostfront 1943/44 – Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten“ detailliert Einblicke in die militärisch-operativen Vorgänge gegeben werden und so Entscheidungen und Entwicklungen in einer der größten Menschen- und Materialschlachten in der Geschichte nicht zwingend nachvollziehbar, dafür aber verständlich werden. Gerade diese Reduktion auf das rein Militärisch-Organisatorische hat für Kritik gesorgt.
So war in einer ausführlichen Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen, dass dieser Band ein „Rückschritt zur eng gefassten Schlachtenbeschreibung“ sei. Diese Kritik greift ihrerseits zu eng, da die Autoren in der Einleitung auf den Schwerpunkt der militärisch-operativen Themen hinweisen, exemplarisch aber auch den politisch-strategischen Kontext berücksichtigen. Ihre Beiträge verstehen die Autoren darüber hinaus als Ergänzung zu den übrigen Bänden in der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, wo ausführliche Analysen zu den mentalitätsgeschichtlichen, ideologischen, innen-, wirtschafts- und besatzungspolitischen Auswirkungen zu finden sind.
Die Autoren zeigen, dass der Krieg an der Ostfront in den Jahren 1943 und 1944 eine deutsche Armee in der Defensive präsentierte, die strategisch am Ende war, aber durch operative Leistungen den längst fälligen Untergang verzögern konnte. Auf der anderen Seite die Rote Armee, die weniger auf Taktik sondern vor allem auf Menschen- und Materialmassen setzte und so regelrecht versuchte, die deutschen Kräfte mit ihrer Übermacht zu erdrücken. Gerade in dem kühl-distanzierten Ton der Zahlen und Schlachtenverläufe zeichnet „Die Ostfront 1943/44 – Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten“ ein Bild von einem Kriegsschauplatz, auf dem die menschlichen Verluste weitaus höher, die menschlichen Dramen weitaus schlimmer waren als bisher angenommen.
Eine der interessantesten und wohl auch in Zukunft für reichlich Diskussionsstoff sorgende These wirft Bernd Wegener mit Hitlers „Choreographie des Untergangs“ auf. Der von Hitler propagierte Glaube an den Endsieg war nur Mittel zum Zweck. Denn dessen Entscheidung für den Krieg war eine absolute, bei der es nur Sieg oder Untergang geben konnte. Die Radikalisierung an den Fronten und in den Konzentrationslagern bis 1945 war, so Wegener, nur logische Konsequenz dieser Haltung. Hitlers Strategie in der Endphase des Zweiten Weltkrieges war eine „Untergangsstrategie“, der nicht nur er, sondern nach seiner Vorstellung auch das ganze deutsche Volk zum Opfer fallen sollte.
Karl-Heinz Frieser/Klaus Schmider/Klaus Schönherr/Gerhard Schreiber/Kriztián Ungváry/Bernd Wegener: Die 1943/44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 8), München 2007, 1350 S., 49,80 Euro.
Dirk Becker
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