Homepage: „Eine besondere Art von Wahrheit“
Der Potsdamer Philosoph Prof. Hans Julius Schneider über die Grundsatzdiskussion um religiöse und wissenschaftliche Wahrheit
Stand:
Herr Prof. Schneider, wenn man über religiöse Erfahrung reden möchte, spielt die Herkunft oft eine Rolle. Woher kommen Sie?
Ich bin in West-Berlin aufgewachsen und zur Schule gegangen, habe evangelischen und katholischen Religionsunterricht gehabt. In Berlin begann ich auch zu studieren. Es ist kein Geheimnis, dass ich keiner Kirche angehöre. Ich wurde als Kind nicht getauft. Meine Eltern waren der Meinung, ich solle das als erwachsener Mensch entscheiden. Mir standen daher immer mehrere Perspektiven zur Verfügung. Und es war mir immer klar, dass es bei dem Thema Religion um wichtige Dinge geht. Aber, wenn man einen jungen Erwachsenen sich entscheiden lässt, kann es eben vorkommen, dass er sagt: Ich trete keiner Partei bei, sondern werde Philosoph.
Sie sind Sprachphilosoph. War Ihr Interesse an der religiösen Erfahrung in Ihrer philosophischen Ausbildung problematisch?
Letztlich nicht. Ich habe früh Wittgenstein und Jaspers gelesen. Und bei Jaspers steht sinngemäß, dass sich die wichtigen Dinge des Lebens sowieso nicht in Sprache fassen lassen. Beim frühen Wittgenstein fällt der berühmte Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Lange Zeit war ich also auch der Meinung, dass diese anerkannt wichtigen Dinge der Religion nicht philosophisch in Sprache zu fassen seien. Es gab also keinen Konflikt zwischen Philosophie und Religion.
Sie haben aber Ihre Meinung geändert?
Nun, es wurde mir immer deutlicher, dass man vielleicht nicht wissenschaftlich, aber auf andere Weisen über religiöse Erfahrung reden kann. Das heißt aber gerade nicht, dass diese Erfahrungen unwichtig sind. Die wichtigsten und ernstesten Dinge des Lebens werden eben sprachlich so ausgedrückt, dass sie mit wissenschaftlicher Wahrheit gar nicht in Konflikt geraten können. In gewisser Weise habe ich später versucht, diese anderen Sprachformen zu verstehen. Wie werden dort die wichtigen Dinge ausgedrückt, ohne dass eine Konkurrenz zur wissenschaftlichen Wahrheit entsteht?
Für Sie liegt religiöse Erfahrung also außerhalb von Empirie und Argumentation im wissenschaftlichen Sinne?
Ja. Simpel gesagt: Es gibt viele Lebenserfahrungen, die nicht wissenschaftlich sind. Die Erfahrung, sich zu verlieben, Vertrauen zu haben, ist ein Beispiel dafür. Diese Erfahrungen lassen sich schildern und sind von zentraler Bedeutung für uns. Sie wurden auch schon immer in Texten dargestellt, zum Beispiel in Romanen oder Gedichten. Und ich sollte vielleicht hinzufügen, dass ich mich schon recht früh für die Zen-Meditation interessiert habe. Ich habe dann angefangen, sie zu praktizieren. Es geht also auch um Praxis. Die Erfahrungen, die man mit solchen persönlichen Praktiken macht, sind etwas ganz Anderes als wissenschaftliche Erfahrungen.
Um den Evolutionsforscher Richard Dawkins und sein Buch „Der Gotteswahn“ ist eine rege Diskussion entbrannt. Dawkins ist radikaler Atheist und versucht, Gott zu widerlegen. Er erkennt dabei nur naturwissenschaftliche Wahrheit an.
Dawkins Vorstellung von Wahrheit ist zu eng gefasst. Er geht von einem empirischen, wissenschaftlichen Kontext aus, wie zum Beispiel einer Laborsituation. Das ist auch völlig respektabel, aber es kann nicht alles sein. Ich habe die Verliebtheit ja schon erwähnt. Auch in diesem anderen Bereich kann es etwas wie Wahrheit geben. Bei dem Dramatiker Henrik Ibsen, zum Beispiel, ist die Idee der Lebenslüge sehr wichtig. Man kann ja sein Leben auf eine Unwahrheit bauen. Bei einer solchen Vorstellung hängt Wahrheit stark mit Wahrhaftigkeit zusammen. Es geht dann um Angemessenheit, also darum, kein „schiefes Bild“ von der Welt zu haben. Wir brauchen einen solchen Angemessenheitsbegriff, der mit dem Wahrheitsbegriff eng verwandt ist.
Darum geht es auch bei der Religion?
Ja. Dasselbe gilt für religiöse Schriften. Es geht um eine Art von Wahrheit, die uns Orientierung ermöglicht, weil sie der betreffenden Situation angemessen ist.
In einem Vortrag an der Katholischen Akademie Berlin haben Sie jüngst betont, dass Kirchen eine öffentliche Funktion haben, die die Philosophie nicht hat.
Ich würde Philosophie und Religion in dieser Hinsicht trennen. Ich würde betonen, dass die Philosophie heute keinen anleitenden Auftrag für die Menschen hat. Im Altertum waren Epikuräer und Stoiker fast Mönchsgemeinschaften oder Bruderschaften. Heute ist die Philosophie eine akademische Disziplin in der Universität. Wir können heute nicht im Leben der Studierenden herumpfuschen. Beiden, Philosophie und Kirche, geht es aber darum, eine angemessene Sicht auf das Leben der Menschen zu finden. Im Gemeindeleben und den Ritualen der Kirchen finden die Menschen dann auch praktische Hilfe.
Gleichzeitig trennen Sie Naturwissenschaft und Religion. Biologen wie Richard Dawkins, aber auch Hirnforscher, haben ja oft ein Problem mit religiöser Erfahrung.
Man darf natürlich nicht so tun, als bezöge sich die Rede von Gott auf eine überlebensgroße Person irgendwo jenseits der Milchstraße. Als könnte ein Teleskop oder ein Sputnik uns Aufschluss darüber geben. Wenn wir bei der christlichen Rede bleiben, wird man sagen müssen, dass die Rede von Gott sich nicht auf einen Gegenstand bezieht. Wir können Gott nicht mit naturwissenschaftlichen Mitteln erfassen. Das ist wie bei dem Begriff des Lebens in einer bestimmten Kultur oder Epoche. Man kann sich relativ schnell klar machen, dass man eine ganze Lebenswirklichkeit nicht mit naturwissenschaftlichen Mitteln erfassen kann.
Man darf es sich mit der Rede von Gott also nicht zu leicht machen?
Man kann von dem normalen Gemeindepfarrer schon fordern, dass er nicht den Eindruck erweckt, dass Gott hinter einer Wolke sitzt. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem theologischen Erkenntnisstand und dem, was in den Kirchen passiert. Manchmal hat der Pfarrer auch Angst, dass er den Leuten etwas wegnimmt. Da ist noch Arbeit zu leisten. Es geht bei der religiösen Erfahrung eben um eine besondere Art von Wahrheit, die nicht gegenständlich ist. Mit Wittgenstein könnte man auch auf Gott bezogen sagen: „Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts.“
Das Gespräch führte Mark Minnes
Im Juli erscheint von Hans Julius Schneider das Buch „Religion“ in der Reihe Grundthemen der Philosophie (de Gruyter Verlag).
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