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ZUR PERSON: „Eine Gleichung wie ein Gedicht lesen“

Siegfried Wendt, Gründungsdirektor der Hasso-Plattner-Instituts, weckt technische Begeisterung

Stand:

Herr Wendt, mein Mathematiklehrer sagte regelmäßig, er habe das Fach studiert, weil er ein fauler Mensch sei. Diese gut gemeinte Arroganz hat nicht nur bei mir dazu geführt, dass Mathematik immer nur ein notwendiges Übel blieb. Liegt es nun an der Wissenschaft selbst oder an den Lehrern, dass die Mathematik einen so schlechten Leumund hat?

Das falsche Einordnen der Wissenschaft ist schuld. Ich habe relativ spät erkannt, dass die Begabung, in der Mathematik kreativ zu sein, also komplizierte mathematische Aufgaben zu lösen, wirklich selten ist. Genauso selten wie die Begabung eines Ludwig van Beethoven, gute Musik komponieren zu können.

Aber Beethovens Musik kann man sehr gut genießen, ohne selbst Komponist zu sein.

Ich bin nicht begabt genug, um Musik wie die von Beethoven zu komponieren. Aber ich bin begabt genug, mich von anderen über die Besonderheiten seiner Sinfonien unterrichten zu lassen und sitze mit großer Freude in einem Konzert. So ist es mit der Mathematik auch. Das Verfassen mathematischer Werke erfordert eine seltene Begabung.

Die Sie haben?

Ja, aber das ist mir erst spät klar geworden.

Dann gehörten Sie zu den Glücklichen im Mathematikunterricht.

Aber ich habe viel zu viele Leute erlebt, die diese Begabung nicht haben, mit denen der Mathematiklehrer aber immer so umgegangen ist, als müsste doch jeder logisch denkende Mensch auch diese Begabung haben.

Kann es sein, dass viele Mathematiklehrer, die diese Begabung haben, einfach nicht verstehen können, dass andere Menschen diese nicht haben?

Ja, weil es nie so explizit ausgesprochen wurde. Kein Musiklehrer erwartet von seinen Schülern, dass sie komponieren können, die Begabung eines Beethoven haben. Aber der Mathematiklehrer erwartet, dass jeder Schüler, der im Gymnasium sitzt, mathematische Formeln „komponieren“ kann. Hier wird nicht getrennt zwischen dem Erstellen von komplizierten Gleichungen und der Aufnahme solcher Gleichungen. Wenn man von allen Menschen die Begeisterung und vor allem Fähigkeit zum Schaffen mathematischer Strukturen verlangt, überfordert man 80 Prozent der Menschheit.

Wie würden Sie bei Schülern die Begeisterung für die Auseinandersetzung mit fertigen Gleichungen wecken?

Ich würde versuchen, den Schülern die Freude an fertigen Lösungen beizubringen und zu fragen, ob sie die Schritte, die der Weg zur Lösung waren, jeden einzelnen als korrekt erkennen.

Aber oft genug kommt es vor, dass ein Schüler einen dieser Schritte nicht versteht und nachfragt.

Ja, dann sagt der Mathematiklehrer häufig, das müsse man doch sehen, das liege doch auf der Hand. Das hat mit der Selbstverständlichkeit der Begabung zu tun.

Aber für den, der diese Begabung nicht hat, liegt es eben nicht auf der Hand.

Richtig. Irgendwann hört er dann auf zu fragen, weil er sich nicht jeden Tag durch solche Antworten bescheinigen lassen will, wie dumm er scheinbar ist.

Liegt die ablehnende Haltung gegenüber Naturwissenschaften wie Mathematik und Physik im Vergleich zur Musik oder Kunst auch daran, dass diese Wissenschaft in ihren Herleitungen und Ergebnissen vor allem abstrakt bleibt. Ein Gemälde kann ich sehen, Musik kann ich hören.

Man kann eine mathematische Gleichung auch wie ein Gedicht lesen. Und so wie man nicht so begabt sein muss, um ein solches Gedicht selbst zu schreiben, kann man dieses mathematische Gedicht Zeile für Zeile lesen und sich daran erfreuen, wie alles zueinander passt.

Ist Ihr Buch „Was Sokrates nicht wissen konnte. Eine Bildungsreise zu den Grundlagen unserer technischen Zivilisation“ als Versuch anzusehen, Menschen, denen diese Begabung fehlt, nicht nur die Mathematik näher zu bringen?

Das muss ich ein wenig einschränken. Das Buch ist anspruchsvoll geschrieben und setzt einen gewissen Grad an Intelligenz voraus. Ein gutes Abitur sollte der Leser schon haben. Dann aber unabhängig davon, welchen Beruf man erlernt hat. Salopp würde ich sagen Pfarrer, Amtsrichter und Englischlehrer.

Auch Mathematiklehrer?

Ja, auch Mathematiklehrer und Ingenieure, Physiker und Chemiker. Alle die sich mit mir als Ingenieur auf einer gewissen Ebene über technische Zusammenhänge unterhalten wollen. Wenn ich mich mit einem Althistoriker unterhalte und der von seinen Forschungen über die alten Römer berichtet, erwartet der auch, dass ich mich ihm gegenüber zumindest als gebildeter Mensch erweise und nicht frage, wer die alten Römer überhaupt gewesen seien.

Und was erwarten Sie von Ihrem Gegenüber, wenn Sie sich mit ihm über Ihr Fachgebiet unterhalten möchten?

Die grundlegenden Erkenntnisse, die die Menschheit seit der Antike gewonnen hat und worauf die gesamte Technik beruht. Das sind, um bildlich wie in meinem Buch zu sprechen, nur acht Steilwände, die die Menschheit überwunden hat.

In Ihrem Buch schreiben Sie über Koordinatensysteme und Matrizen, über Erwartungswert und Streuung, selbst über Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie. Muss man nicht vielleicht doch ein kleines Genie sein, um sich diesem Buch zu widmen?

Albert Einstein musste genial sein, um zur Relativitätstheorie zu kommen. Der Leser meines Buches muss nur motiviert sein, den Weg nachzugehen, den ein anderer vor ihm schon ausgetreten hat.

Was natürlich auch mit Anstrengungen verbunden ist.

Ohne Anstrengung geht es nicht. Aber diese Anstrengung wird durch die Freude, am Ende der Steilwand oben angekommen zu sein, belohnt.

Was war der Anlass für dieses Buch?

Der erste Impuls geht weit zurück bis zu meinem Doktorvater Karl Steinbuch. Der hatte schon 1968 bemängelt, dass unsere Führungselite in einem Bereich der Wissenschaft, der Mathematik, Naturwissenschaft und Technik, völlig blind war.

Man könnte entschuldigend einwenden, dass bei dem schnellen Wachstum an Wissen, oft wird auch von einer Wissensexplosion gesprochen, es kaum noch möglich ist, sich so umfassend zu informieren.

Da müssen wir unterscheiden. Es gibt die grundlegenden Erkenntnisse und die Informationsfülle. Die Aussage, das Wissen der Menschheit verdoppelt sich alle sieben Jahre, ist irreführend. Was sich verdoppelt, ist nur die Fülle der verfügbaren Informationen.

Ihr Buch soll nun eine Art Fundament schaffen, auf deren Basis man aus der Fülle der Information die richtigen auswählen kann?

Ja, wer die 630 Seiten meines Buches mit Verstand liest, der kann diese Informationen einordnen.

Woher nehmen Sie diese Sicherheit?

Ich hatte eine Prüfleserin, eine sehr intelligente Nonne.

Eine Nonne hat Ihr Buch gelesen, in der Sie die Entstehung der Welt, die Phänomene als naturwissenschaftlichen, logischen Prozess erklären und nicht auf einen göttlichen Ursprung zurückführen? Waren da nicht grundlegende Auseinandersetzungen programmiert?

Da die Frage, wie die Welt entstanden ist, keinen Einfluss auf unsere Technik hat, wird sie in meinem Buch nicht behandelt. Außerdem kann die Nonne zwischen Wissen und Glauben unterscheiden. Der Mensch ist geschaffen, um Fragen zu stellen und unerschütterliche Erkenntnisse zu finden. Sie hat gesagt, dass sie nach der Lektüre meines Buches all die neuen Informationen, die sie jetzt noch in den Zeitungen lesen wird, endlich einordnen kann.

Nach welchen Kriterien erfolgte die Auswahl der Themen für Ihr Buch?

Durch Studium und Beruf bin ich permanent im Wissenschaftsbetrieb gewesen und habe durch die ständige Beschäftigung mit der Mathematik festgestellt, dass bestimmte Grundregeln immer wieder auftauchen. Wie Knotenpunkte, von denen alles andere ausgeht. Das gilt auch für die Physik. Wer die Newtonschen Mechanik nicht kennt, kann auch nichts mit der Relativitätstheorie anfangen. Und Relativitätstheorie und Quantentheorie bestimmen heute noch maßgeblich das Denken aller Physiker.

Warum haben Sie ausgerechnet Sokrates ausgewählt, dem Sie in Ihrem Buch den heutigen Stand unseres Wissens erklären?

Sokrates ist für mich der Inbegriff des Fragenden. Zwar würden Philosophen jetzt sagen, dass Sokrates nicht gefragt hat, weil er etwas wissen wollte, sondern um seinem Gegenüber zur eigenen Erkenntnis zu verhelfen. Aber dieses Prinzip des kritischen Hinterfragens, wie es Sokrates betrieb, ist für mich Maßstab.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Siegfried Wendt stellt heute, um 13.30 Uhr, im großen Hörsaal des Hasso-Plattner-Instituts, S-Bahnhof Griebnitzsee und morgen, um 19 Uhr, im Industrieclub Potsdam, Weinbergstraße 20, sein Buch vor.

Siegfried Wendt, 1940 in Hornberg im Schwarzwald geboren, war von 1999-2005 Gründungsdirektor des Hasso-Plattner-Instituts für Softwaresystemtechnik in Potsdam.

Wendt studierte von 1959-64 Elektrotechnik an der Technischen Universität in Karlsruhe. Während seines Studiums war er wissenschaftlicher Assistent am Institut für Nachrichtenverarbeitung.

Von 1969 -72 war er „Assistent Professor“ in Buffalo/USA, danach zwei Jahre Professor für technische Informatik in Hamburg, von 1975-98 Professor für digitale Systeme in Kaiserslautern.

Seit 2005 ist Siegfried Wendt im Ruhestand. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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