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Landeshauptstadt: Eine kurze Zeit der Freiheit

Nach Haftentlassung durch die Gestapo wurde Ulrich von Sell ins sowjetische Lager Jamlitz verschleppt

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Nach Haftentlassung durch die Gestapo wurde Ulrich von Sell ins sowjetische Lager Jamlitz verschleppt Zum Jahrestag des Aufstandes vom 20. Juli 1944 wurde diesmal auf dem Bornstedter Friedhof besonders an Ulrich Freiherr von Sell erinnert. „Nach Gestapohaft wegen / seiner Beteiligung am Attentat vom 20. Juli 1944 / im sowjetischen / Internierungslager Jamlitz / umgekommen am 12. Nov.1945“, informiert die Gedenktafel auf der Familiengrabstätte der alten Potsdamer Offiziersfamilie. Diese Inschrift provoziert die Frage, wieso die russischen Besatzer einen Mann des Widerstands gegen Hitler inhaftierten. Sein Sohn Prof. Friedrich-Wilhelm Freiherr von Sell hat auf einem langen Weg die Hintergründe aufgeklärt. Mit Hilfe des durch seine Arbeiten über den Offizierswiderstand bekannten Kleinmachnower Filmproduzenten Bengt von zur Mühlen gelang es ihm, die in Jamlitz (bei Lieberose) über seinen Vater angelegte Akte aufzuspüren. Sie war nach Auflösung des Lagers ins westsibirische Omsk verbracht worden, wo sich ein stalinsches Straflager befand. Aus der Akte erfuhr von Sell das korrekte Todesdatum seines Vaters: 12. November 1945 statt wie bis dahin angenommen 13. Dezember. Sie enthielt aber nur ein einziges von einem sowjetischen Oberleutnant mit Bleistift aufgezeichnetes Verhörprotokoll. Daraus waren keine Schuldzuweisungen abzulesen. Als hilfreicher erwies sich ein Kassiber, den Ulrich von Sell aus Jamlitz herausgeschmuggelt hatte. Darin machte er deutlich, dass man ihm als ehemaligem Offizier der Abwehr seine Widerstandstätigkeit nicht glaubte. Sell hatte im Krieg die „Prüfstelle Auslandspost“ in Berlin geleitet, war aber bereits 1942 als 58-Jähriger in Zwangspension geschickt worden. Seine kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus hatte er schon Anfang der 30er Jahre deutlich gemacht. Der als Major aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrte Mann war nach einer Bankausbildung in die Vermögensverwaltung des Hohenzollernhauses eingetreten. Als Verwalter der Privatschatulle des in Doorn lebenden ehemaligen Kaiserpaares wandte er sich gegen jegliche Unterstützung der NS-Bewegung durch Wilhelm II. Dafür riskierte er den Unwillen der zweiten Gemahlin des Kaisers, Prinzessin Hermine, die von Hitler die Wiederherstellung der Monarchie erhoffte. Als Angehöriger der Bekennenden Kirche sagte v. Sell in einem politischen Prozess für seinen Gemeindepfarrer und Freund Martin Niemöller aus, der später sein Schwiegersohn wurde. Vor dem 20. Juli 1944 traf er sich mit Generaloberst Ludwig Beck, Generalmajor Hans Oster, Stauffenbergs Adjutant Werner von Haeften u.a. zu Gesprächen über die Vorbereitung des Aufstandes. Nur drei Tage nach dem fehlgeschlagenen Attentat wurde Ulrich Freiherr von Sell verhaftet, jedoch wie einige andere Widerständler nicht sofort abgeurteilt, sondern einer quälenden Einzelhaft im Gefängnis Lehrter Straße ausgesetzt. Im April 1945 wurde er überraschend entlassen, schon am 7. Mai aber von den in Berlin eingerückten Russen erneut festgenommen. Über die Umstände seines Todes in Jamlitz hat ein überlebender Mithäftling, der Schauspieler Gustav Gründgens, die Familie v. Sell unterrichtet. Danach stürzte der entkräftete und erkrankte Mann von seiner Doppelstockpritsche, verletzte sich und starb. Als Pfarrer Gottfried Kunzendorf 1984 zum ersten Mal in der Bornstedter Kirche einen Gedenkgottesdienst für die Männer des 20. Juli 1944 hielt, hatte er sich zuvor an Prof. Friedrich-Wilhelm Freiherr von Sell gewandt und eine Gedenktafel auf der Familiengrabstätte angeregt. Sell, als Intendant des Westdeutschen Rundfunks in einer wichtigen medienpolitischen Stellung, zögerte zunächst. Er wollte Kunzendorf und die Kirchengemeinde nicht in Schwierigkeiten bringen. Dann aber gab er doch seine Zusage und weihte die Gedenktafel ein. In den 90er Jahren kehrte er für längere Zeit nach Potsdam zurück. Als Gründungsintendant leitete von Sell den Aufbau des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB). Inzwischen hat er auch am Todesort seines Vaters in Jamlitz eine Gedenktafel aufstellen lassen.

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