
© HPI/Kay Herschelmann ]
Homepage: Eine völlig neue Sicht auf die Welt
An der HPI School of Design Thinking Potsdam lernen die Studierenden, wie man Erfindungen macht
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Ein Student mit Lockenkopf hat sich einen improvisierten Döner-Kebab-Spieß vor den Bauch geschnallt: eine Schaumstoffmatratze, die er um einen Besenstiel gewickelt hat. „Knoblauch? Kräuter? Scharf?“, mimt er einen Kebab-Verkäufer. Das Fladenbrot ist aus WC-Papier, Salat und Zwiebeln sind bunte Papierschnipsel.
Ulrich Weinberg, der Leiter der Erfinder-Akademie, lacht und hebt den rechten Daumen. „Selbstverständlich wird nicht alles, was unsere Studenten erfinden, in der Realität umgesetzt“, erklärt er später. Jeden Vormittag machen die Studierenden in kleinen Gruppen erst einmal Aufwärmübungen. Sie bekommen exakt 60 Minuten Zeit, um eine Idee zu entwickeln. Die Vorgabe für das Team, das gerade den „Walking Döner“ erfunden hat, lautete „Fast Food neu denken“.
Weinberg hat einst Malerei studiert und sich später auf Animationsfilme spezialisiert. „Was wir anbieten, ist keine Design-Ausbildung, sondern ein Innovations-Studiengang“, stellt er klar. Die Absolventen sollen in unterschiedlichen Bereichen Impulse setzen: in der Privatwirtschaft, in Wissenschaft, Verwaltung, Bildung. Vor fünf Jahren wurde die Erfinder-Akademie ins Leben gerufen. Sie ist ans Hasso-Plattner-Institut (HPI) der Universität Potsdam angegliedert, eine Kaderschmiede für Software-Ingenieure. Vorbild war die d.school an der Universität Stanford in Kalifornien, die seit 2005 ähnliche Lehrgänge anbietet. Die Ausbildung an der HPI School of Design Thinking in Potsdam dauert nur ein bis zwei Semester. Vorlesungen und Seminare gibt es keine. Jede Lehrveranstaltung hat Praxisbezug. „Five minutes brainstorming!“, ruft die Trainerin eines Teams gerade. Wie Schulkinder beim „Stadt, Land, Fluss“-Spiel notieren vier Studenten blitzschnell Stichworte zum Thema „Bibliothek der Zukunft“. Bis die Eieruhr klingelt.
Rund 300 Studierende aus 17 Ländern haben sich im vergangenen Jahr um die 80 Plätze beworben. Aufgenommen wurden angehende Ingenieure, Designer, Naturwissenschaftler, Ökonomen, Grafiker, Musiker und Sozialwissenschaftler – denn Ulrich Weinberg ist überzeugt, dass sich unterschiedliche Zugänge beim Design Thinking gegenseitig befruchten. Meist wird Englisch gesprochen, die einzige Sprache, die alle beherrschen. „Die Entwicklungsabteilungen großer Konzerne tüfteln oft Jahre an komplexen Systemen – die in der Praxis so nicht gebraucht werden“, sagt Weinberg. „Bei uns lernen die Studierenden zu Beginn, darauf zu achten, was die Zielgruppe will.“ Oft gehen Dutzende Interviews mit potenziellen Nutzern der kreativen Arbeit voraus.
Die „Klassenzimmer“ der Teams sind nur durch Stellwände voneinander getrennt. Mit Filzstift kritzeln die Studierenden Stichworte an diese Tafeln, fertigen Skizzen an, kleben gelbe Zettel und allerlei Krimskrams fest. Taubenfedern etwa oder Fotos von Politikern. Auf den Arbeitstischen herrscht kreatives Chaos: Silberfolie, Klebstoff, Wassergläser, Laptops, benutzte Kaffeetassen, Messer, Schaumgummi, Seide. Die Studenten sollen ihre Ideen praktisch umsetzen und Prototypen bauen – wie den mobilen Dönerspieß aus Besenstiel und Schaumstoffmatratze.
Auf der Bühne eines Mini-Amphitheaters präsentieren die Teams die Resultate der Aufwärmübungen. Die Arbeitsgruppe „Bibliothek der Zukunft“ hat auf einem Pult ein Dutzend Bücher in einer Reihe aufgestellt. Als eine Testperson eines der Werke herausgreift, machen sich zwei weitere Bücher wie von Geisterhand bewegt durch wildes Zucken bemerkbar. Der Proband versteht es sofort. „Related books“, sagt er. Bücher mit verwandten Themen. Ein weiteres Team hat ein Mode-Online-Portal entworfen: „pulli4you.de“. Am Flipchart zeichnet eine Assistentin am Körper der „Userin“ mit Filzstift die Silhouette nach. Anschließend kann die virtuelle Kundin per Mausklick Stoffe, Farbe, Ärmellänge des gewünschten Pullovers wählen und Zusätze wie Rollkragen anklicken. Der Clou: Online-Freundinnen könnten sie vor dem Kauf beraten, wie einst – in analogen Zeiten – im Kleidergeschäft.
Die Gruppe zählt an der Erfinder-Akademie mehr als der Einzelne. „Nichts gegen Leute wie Leonardo da Vinci“, sagt Ulrich Weinberg. „Aber kleine Teams von vier bis sechs Personen eignen sich besonders gut, um kreativ zu sein.“ In der Regel sind es vier Studierende und ein bis zwei Trainer, die zusammenarbeiten. Für viele Anfänger ist das eine Umstellung, räumt Weinberg ein. Vanessa Pedroso, eine quirlige Ökonomin aus Sao Paulo, lächelt. Nicht nur die ständige Teamarbeit sei anfangs eine Herausforderung gewesen, sagt sie. Harte Kritik ist an der Erfinder-Akademie verboten. Zu Beginn sei es ihr schwergefallen, auf die Schwächen mancher Vorschläge lediglich in Frageform hinzuweisen. „Habt ihr bedacht, dass ?“, statt: „Das funktioniert so nicht!“
Durch die ermutigende Grundhaltung der Trainer und Kollegen traue man sich aber, auch schräge Ideen zu äußern – die sich oft als die besten erwiesen. „Hier geht es viel freier zu, als ich das von der Universität und aus dem Job kannte“, sagt Pedroso. „Das ermöglicht eine völlig neue Sicht auf die Welt.“
Das Studium ist unentgeltlich. Partnerfirmen bezahlen für Forschungs- oder Entwicklungsaufträge. Zwölf Wochen lang beschäftigen sich die Studierenden mit ihrem Abschlussprojekt. Regelmäßig kommen Experten aus den Kreativabteilungen der Projektpartner ins Institut, um sich Zwischenstände anzusehen. Mehrfach haben Unternehmen aus solchen Kooperationen Gewinn gezogen: Für die deutsche Supermarktkette Rewe hat ein Team unlängst ein Homeshopping-Konzept erarbeitet.
Auch die Sicherheitskontrollen an Flughäfen könnten dank der Erfinder-Akademie angenehmer werden. Ein Team schlug vor, dass am Check-in-Schalter jeder Kunde eine Art Klappstuhl mit Rädern ausgehändigt bekommt. Das Rollwägelchen hat eine Schublade für Wertsachen, ein Fach für Handtasche und Laptop. Das Warten und Hantieren am Rollband vor der Schleuse wäre Geschichte. Jeder könnte in Ruhe seine Siebensachen verstauen und den Trolley hinter sich herziehend durch die Sicherheitsschleuse spazieren. Ehemalige Mitglieder dieser Arbeitsgruppe haben bereits ein Start-up gegründet, um die Idee zur Marktreife zu bringen. Till Hein
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