
© Manfred Thomas
Von Guido Berg: Einen Rochus auf Rathenow
Die Brillen in Kauf genommen: Optiker Gerhard Klotzek geht nach 51 Jahren in den Ruhestand
Stand:
Babelsberg - Alles ist raus. Fast alles. An der Wand hängen noch eine Uhr und ein Barometer und in einer Ecke steht ein altes Refraktometer, ein optisches Gerät, dass heute jemand abholt und in ein Museum bringt. Und Gerhard Klotzek ist da. Noch kommt er jeden Tag in die Karl-Liebknecht-Straße 121, in das Haus, in dem seit 1912 Optiker ansässig sind. „Er kann es nicht lassen“, sagt seine Frau Elfriede, er kommt in sein Optiker-Geschäft wie an jedem Arbeitstag seit 1958. „Ich bin bis zum 31. Dezember hier, bis 12 Uhr“, bekräftigt der 74-Jährige. Der schlanke silbergraue Mann trägt ein grünes Jacket, so grün wie seine Augen und so grün, wie das Emaille-Auge auf dem Abzeichen an seinem Revers, eine Ehrennadel der brandenburgischen Optiker-Innung. Auf einem kleinen Tisch in der Küche stehen sauber aufgereiht vier Sektgläser, zum Anstoßen, weil immer mal jemand herein kommt, um sich zu verabschieden.
Wer wie Gerhard Klotzek 1935 in Westpreußen geboren wurde, in dem Städtchen Ortelsburg, der hatte eine Kindheit, die jeh in Mitleidenschaft gezogen wurde durch den Krieg. Am 20. Januar 1945 fielen die ersten Bomben. Sein Vater ist Soldat, zusammen mit seiner Mutter und dem drei Jahre jüngeren Bruder besteigt Klotzek noch am gleichen Abend einen Zug, der sie wider erwarten nicht nach Westen, sondern nach Norden bringt, in die Nähe von Königsberg. Dort wird der Flüchtlingstreck von der Roten Armee überrollt; sie übernachten in Baracken oder auf dem Feld und kommen irgendwann wieder dahin zurück, wo sie aufgebrochen waren, in Ortelsburg. 1947 verlässt die Familie Polen. Nach einigen Stationen und Entbehrungen erreicht sie die Mitteilung, dass der Vater in Angermünde ist, dort finden Klotzeks eine neue Heimat. Dort steht Gerhard Klotzek dann auch häufig vor einem Optiker-Geschäft. Hin und wieder geht er hinein und lässt sich Mikroskope und Ferngläser zeigen; die haben es ihm angetan, nicht die Brillen. Die hat er lediglich in Kauf genommen, als er sich für seinen Beruf entschied. Irgendwann suchte der Optiker einen Lehrling. Er war in dem Jungen, der sich fast täglich an der Ladenscheibe die Nase platt drückte, schnell gefunden.
Nach zweijähriger Lehre und dreijähriger Gesellenzeit ging Klotzek an die Fachschule für Augenoptik in Jena. Damals „musste noch niemand seine Seele verkaufen, um studieren zu können“. Damals zählte noch Leistung, nicht die gediente Armeezeit, nicht das richtige Parteiabzeichen. „Die Ansprüche waren hoch.“
Gegen Studienende drückte ihm eine Kommilitonin einen Zettel in die Hand, darauf die Adresse „Karl-Liebknecht-Straße 121, Potsdam-Babelsberg“. Als Klotzek sich dort 1958 bewarb, nahmen sie ihn sofort. Dort arbeitete bereits die junge Frau, die er schon von Jena her „flüchtig“ kannte. 1966 haben sie geheiratet.
Es sind doch die Brillen, die fortan sein Leben und das seiner Frau bestimmen. „Dicke Brummer“ etwa nach einer Star-Operation, die die Augenlinse ersetzen mussten. Heute bekommt der Patient eine Kunststoff-Linse transplantiert. Lange Jahre waren die Rathenower Optischen Werke einziger Lieferant für Linsen und Brillengestelle. Einen richtigen Rochus entwickelte Klotzek auf Rathenow – monatelang mussten die Kunden auf ihre bestellten Brillen warten, weil das Werk veraltet war und die Produktion „für Westpfennige“ größtenteils exportiert wurde. Für einen Bonzen „vom Kreml“, der SED-Bezirksleitung, ging es freilich schneller, „weil der den Parteisekretär in Rathenow kannte“. Nach der Wende bestellte Klotzek nur einmal noch in Rathenow – weil ein Kunde es zur Rettung der Ostarbeitsplätze so wollte.
Dass Klotzek ab heute Nachmittag in ein Loch fallen wird, glaubt er nicht. Er liest gern – Thomas Mann, Martin Walser, Agnes Miegel – und freut sich auf Wanderungen durch Potsdams Parks. Kommt doch Sehnsucht nach den Brillen auf, macht er im Optiker-Geschäft seiner Tochter am Keplerplatz Schwangerschaftsvertretung – „zum Abtrainieren“.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: