
© J. Bergmann
Der Schlaatz in Potsdam: Einfach mitgenommen
Vor fast einem Jahr verschwand Elias am Schlaatz. Was ist das für ein Stadtteil, der nun wieder in aller Munde ist? Was hat der tragische Fall bewirkt? Ein Rundgang durch das vielzitierte Problemviertel.
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Potsdam - Was ist das für ein Ort, an dem ein Kind wie der sechsjährige Elias einfach so verschwinden kann, ohne dass jemand etwas mitbekommt? Und was ist das für ein Ort, wo sich schon wenige Stunden nach dem Verschwinden zig Menschen zusammentun, um nach dem Jungen zu suchen, obwohl sie sich teilweise gar nicht kennen und den Jungen erst recht nicht? Ist der Schlaatz ein „sozialer Brennpunkt“? Oder nur schlechtgeredet? Fast ein Jahr ist es her, dass Elias auf einmal weg war, seine Mutter ihn nicht im Innenhof des Wohnblocks entdecken konnte, wo er eben noch gespielt hatte. Dass die Suche, an der sich zwischenzeitlich bis zu 150 Schlaatzer und mehrere Hundert Polizisten beteiligten, vergebens war, wurde erst drei Monate später zur Gewissheit. Vorgestern nun ging der Prozess gegen seinen mutmaßlichen Mörder Silvio S. los. Zeit, sich hier mal umzusehen, am Schlaatz. Dem vielzitierten Problemviertel Potsdams.
Im Nachbarschaftstreff ist es noch ruhig
Von Problemen ist zunächst wenig zu sehen an diesem verregneten Vormittag, überhaupt ist wenig zu sehen. Die Leute arbeiten oder sind bei diesem Schmuddelwetter zu Hause, nur ein paar Hundebesitzer drehen die obligatorische Runde. Auch im Friedrich-Reinsch-Begegnungshaus im Milanhorst, dem ersten Anlaufpunkt des Schlaatzbesuchs, geht es um diese Uhrzeit noch ruhig zu. „Der nächste Kurs beginnt erst in zwei Stunden“, sagt eine junge Frau und bittet an den großen Tisch gleich am Eingang zu dem eingewachsenen Flachbau. An der Wand hängen Fotos, die die Mitglieder des Fotoclubs geschossen haben, auf dem Sofa lehnt eine Kollage, die die Seniorengruppe gebastelt hat. Ein Nachbarschaftstreff eben.
Eine, die immer wieder hier ist und auch sonst fast überall im Schlaatz ihre Finger mit im Spiel hat, ist Martina Wilczynski. Seit 2004 wohnt die 53-Jährige am Schlaatz, „hinten bei den Kiezen“, wie sie sagt. Denn der Schlaatz ist, analog zu den Phasen seiner Entstehung, quasi in drei Teile aufgeteilt: vorne am großen Horstweg die Horste, in der Mitte die Höfe, hinten die Kieze. Milanhorst, Erlenhof, Bisamkiez. Elias wohnte bei den Höfen, im Inselhof.
Doch die Schlaatzer wollten nicht so richtig mitgenommen werden
Martina Wilczynski hat am Schlaatz schon alle möglichen Initiativen gestartet. Gegen Rechts oder für eine Willkommenskultur, sogar ein Kiezradio hat sie mit aufgebaut. Ein ambitioniertes Projekt, das auch die Schlaatzer selbst mitnehmen sollte. Doch die Schlaatzer wollten nicht so richtig mitgenommen werden, fast keiner wollte „Kiezreporter“ werden. Dann liefen auch noch die Fördermittel aus, Ende 2014 wurde das Radio wieder beendet. Jetzt bangen die Schlaatzer mal wieder um das Friedrich-Reinsch-Haus, nicht zum ersten Mal steht die Finanzierung auf der Kippe – die aktuelle läuft 2018 aus. „Es wäre fatal, wenn dieses Angebot wegfallen würde“, sagt Martina Wilczynski. „Im Begegnungshaus ist Wärme“, sagt sie „Hier kann man Kraft und Zuversicht schöpfen, Einsamkeit auflösen.“
Manche am Schlaatz brauchen das, sie wohnen alleine, haben keine Arbeit. Die Kriminalitätsrate ist hier deutlich höher als im Potsdamer Durchschnitt, der Anteil der Hartz-IV-Empfänger liegt mehr als 15 Prozentpunkte über dem stadtweiten Mittel. Dass sozial schwache Menschen gerade hier am Schlaatz wohnen, hat vor allem mit den günstigen Wohnungen zu tun, die es hier – im Gegensatz zum überwiegenden Rest Potsdams – noch gibt.
"Vieles wird einem hier weggenommen"
Aus Sicht von Petra Sell ist das auch eines der Probleme des Stadtteils. Sie wohnt seit über 30 Jahren in einem der drei Hochhäuser am Schlaatz 13. Stock. Direkt an der sogenannten Schlaatzer Welle, dem langgezogenen, begrünten Zentrum des Viertels. Es ist Mittag, als Petra Sell aus ihrem Haus kommt und den Regenschirm aufspannt, „wir sind ja nicht aus Zucker“. Die vielen Sozialwohnungen zögen eben auch ein bestimmtes Klientel an, erklärt sie. Gleichzeitig verschwinden wichtige Einrichtungen: Vor zweieinhalb Jahren war es der Supermarkt im Bisamkiez, der dichtmachte, im Februar die Postfiliale. „Vieles wird einem hier weggenommen.“ Petra Sell und ihr Mann gehörten zu den ersten Mietern, die 1983 in das Hochhaus zogen. Weil ihr Mann bei der Volkspolizei war, gehörten sie zu den Privilegierten, die dort eine Wohnung bekamen – mit eigenem Bad und Zentralheizung. „Damals war der Schlaatz ein Vorzeigestadtteil“, sagt Sell.
Der Umbruch kam mit der Wende. Tausende zogen weg, Wohnungen standen leer oder wurden von solchen Menschen bezogen, die nur deshalb kamen, weil sie es sich anderswo nicht mehr leisten konnten. Auch im Hochhaus von Petra Sell änderte sich einiges, von den 91 alten Mietern sind heute nur noch acht Parteien da. „Ab der Wende schauten die Leute im Aufzug nur noch zu Boden“, sagt sie. „Man kannte kaum noch wen im Haus.“ Das wollte Petra Sell nicht hinnehmen und gründete einen Nachbarschhaftsclub – einmal die Woche treffen sie sich, zwischen zwölf und 15 Leute. Allerdings seien es hauptsächlich die Älteren, die regelmäßig dabei seien, sagt Sell. An die Jüngeren sei kaum ranzukommen. Und an die meisten Ausländer auch nicht. „Wer nicht will, der hat schon“, sagt sie etwas trotzig. Verstehen kann sie nicht, warum manche sich nicht mehr um ihre Nachbarn kümmern, ihr Umfeld. Und trotzdem sagt sie: „Der Schlaatz ist nicht schlecht.“ Jede Stadt brauche einen Stadtteil, auf den sie schimpfen könne. Und in Potsdam habe es eben den Schlaatz erwischt. Dass die Schlaatzer zusammenhielten, wenn es darauf ankomme, habe doch der Fall Elias gezeigt. „Noch am selben Abend haben die Leute sich hier getroffen und die Suche organisiert“, sagt sie vor dem neuen Rewe unterhalb ihres Hochhauses. „Das spricht doch für den Schlaatz.“
„Man passt schon mehr auf auf die Kinder, ist sensibilisiert“
Die Suchaktion hat auch Martina Wilczynski mitbekommen. Dass die Menschen geholfen haben, fand sie gut. Gleichzeitig aber auch tragisch, dass sie nicht ohne das schreckliche Ereignis zusammengefunden haben. Dass sich der Schlaatz seit Elias’ Verschwinden verändert hat, denkt sie schon. „Man passt schon mehr auf auf die Kinder, ist sensibilisiert.“ Sie nicht mehr ohne Eltern spielen zu lassen, ist aber keine Lösung, denkt sie. „Das tut den Kindern nicht gut.“
Dass das nicht die Konsequenz sein kann, findet auch Steffen Heise. Der gelernte Sozialarbeiter ist stellvertretender Leiter des Schlaatzer Bürgerhauses, neben dem Friedrich-Reinsch-Haus der zweite wichtige Nachbarschaftstreffpunkt im Schlaatz. Eigentlich sei der Stadtteil ideal für Familien mit Kindern, findet er. Durch die verwinkelte Straßenführung herrsche kaum Verkehr, es gebe viel Grün, unzählige Spielplätze. Auf die Frage, ob der Fall Elias den Schlaatz nachhaltig verändert hat, muss er lange nachdenken. „In den ersten Wochen bestimmt“, sagt er dann. Aber bis heute? „Eher nicht.“
Sohn einer Anwohnerin hat auch im Hof gespielt - vor 30 Jahren
Viel Grün gibt es auch im Inselhof, wo Elias wohnte. Sträucher und Bäume stehen in dem von drei Plattenbauten gesäumten Hof, wo er zuletzt gesehen wurde. Auch ein einsames, hölzernes Nilpferd steht dort, daneben ein Sandkasten. Aus dem Wohnblock, in den Elias erst drei Wochen vor seinem Verschwinden mit seiner Mutter und deren Partner eingezogen war, hängt jetzt eine riesige Deutschlandfahne, über drei Fenster reicht sie. Gerade fährt ein Auto heran, eine Frau Mitte 50 steigt aus, sie kommt von der Arbeit. Sie habe weder den Jungen noch die Mutter gekannt, sagt sie. Aber ihr Sohn habe auch immer hier im Hof gespielt – 30 Jahre ist das allerdings mittlerweile hier. „Ist doch eigentlich ideal hier für Kinder“, findet sie auch.
Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen. Kaum ist das Mäuerchen vor dem Rewe trocken, lässt sich eine Gruppe junger Männer und Frauen darauf nieder. Neben sich aufgereiht eine beachtliche Anzahl Sternburg-Flaschen. Um sie herum ein paar Kinder. Sie könnten in Elias’ Alter sein.
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