Von Guido Berg: Einmal Ente satt
Die Arbeiterwohlfahrt lud Obdachlose und Hartz-IV-Empfänger zum Weihnachtsessen ins Dorint-Hotel
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Jägervorstadt - Detlef Nickel sieht aus wie Crocodile Dundee. Nur dass er einen Vollbart trägt und der Trapperhut aus Rinds- statt aus Krokodilleder ist. Der 43-Jährige sieht etwas verloren aus in dieser Welt aus Kronleuchterglanz und Vornehmheit. Zu DDR-Zeiten war er im Knast, erzählt er. Als er wieder raus kam, hatte seine Frau Haus und Grundstück verkauft. Seither schläft er draußen. „Ich habe einen gutgehenden Schlafsack“, sagt er. Auch die letzten beiden Nächte bei minus 15 Grad überstand er, wo will er nicht sagen: „Ich hab meine Stelle.“ Seine Tischnachbarin Petra Hausschild verrät, dass sie bis morgen um fünf Dart gespielt haben, im Dönerimbiss, „bei Ali“. Im letzten Jahr ist ein Freund von Detlef auf einer Parkbank vor der Seerose erfroren, sagt sie und schubst Detlef Nickel an: „Stimmt doch?“ Der Mann mit dem Trapperhut nickt nur kurz.
450 Portionen hat die Arbeiterwohlfahrt (AWO) im Dorint-Hotel für ihre gestrige Weihnachtsfeier zugunsten der Obdachlosen und Armen der Stadt bestellt. Der große Saal des Vier-Sterne-Hotels schien gerade groß genug zu sein, um die Zahl der Gäste fassen zu können. Die nahmen an runden Tischen Platz, auf denen jeweils ein Kronleuchter mit fünf brennenden Kerzen stand. Auf der Bühne spielten die Big Beat Boys Musik der 1960er und 1970er Jahre: „Yeah, baby, she''s got it, I''m your Venus“ oder „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins “
Er habe kürzlich bei einer Sammlung zugunsten von an Kinderlähmung Erkrankter gemerkt, dass es oft die seien, die selbst wenig haben, die spendeten – weniger die, die nach viel Geld aussehen, erklärte der Sportreporter Dirk Thiele, Schirmherr der Veranstaltung, in seiner Begrüßungsrede. Seine Schlussfolgerung: „Die Gesellschaft droht immer herzloser zu werden.“ Die Reichen würden immer reicher und die Armen immer ärmer. Obwohl jährlich auf der Erde 900 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben würden, müssten Milliarden Menschen unter ärmlichsten Bedingungen leben. „Auch wir in Potsdam sind nicht frei von solchen Problemen“, ergänzte Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD): Es gebe Obdachlosigkeit und Armut in der Landeshauptstadt. Hinter Obdachlosigkeit verberge sich oft ein tragisches Schicksal.
Etwa das von Horst Müller. Der 70-Jährige wohnt seit fünf Jahren im Obdachlosenheim am Lerchensteig. Ein Sonderbus hat in und seine Mitbewohner ins Dorint gebracht. Der Mann mit dem gepflegten Schnauzbart ist im Lerchensteig einer der Ältesten. Als Horst Müller nach einer dreimonatigen Gefängnisstrafe wieder rauskam, hatte die Genossenschaft ihm wegen der ausstehenden Mieten die Wohnung gekündigt. Die Betreuung im Lerchensteig sei gut und auch die medizinische Versorgung. Horst Müller ist Diabetiker und wegen eines Wirbelsäulenschadens auf einen Krückstock angewiesen. Wie lange er in seinem Heimzimmer bleiben wird? „Ich bleibe bis zum Lebensende.“
Seit 2007 steigt die Zahl der Hilfebedürftigen an, erklärt Potsdams Sozialbeigeordnete Elona Müller. Das liege am Größerwerden der Stadt, aber auch an der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Tendenz. In Potsdam sieht sie eine gute Sozial-Infrastruktur: 90 Obdachlosenplätze stehen im Lerchensteig, 20 bei den „Jungen Wilden“ für Obdachlose bis 27 Jahren und 34 Plätze im Familienhaus in der Turmstraße bereit. Im Wiesenhof gibt es zudem ein Wohnprojekt für kurzfristig obdachlose Jugendliche. Trennungen seien oft der Grund für Obdachlosigkeit: „Der eine zieht aus, der andere behält die Wohnung.“
Nicht nur Obdachlose kamen gestern ins Dorint, um einmal Ente mit Klößen und Rotkohl zu genießen. Auch Potsdamer, die zwar noch eine Wohnung, aber sonst nicht viel haben. So auch die 42-jährige Andrea, die mit ihrer kleinen Enkeltochter da ist. In der Suppenküche hat sie von der größten Weihnachtsfeier dieser Art in Potsdam gehört. Die Hartz-IV-Bezieherin hat früher im Narwa-Glühlampenwerk in Berlin gearbeitet. „Das war harte Arbeit“, sagt die Frau, „aber die wird heute von Maschinen gemacht“. Für kurze Zeit fand sie noch eine andere Anstellung, aber seit 1991 ist sie arbeitslos. Nun sei sie „zu alt“. Ein Supermarkt teilte mit, gesucht würden „unter 30-Jährige“, genau genommen „so um die 25-Jährige“.
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