Landeshauptstadt: Einmal für eine halbe Stunde die Augen schließen Das Sozialwerk Potsdam feierte im „Seekrug“ sein Winzerfest.
13 Jahre Engagement für Blinde und Sehschwache in Potsdam
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13 Jahre Engagement für Blinde und Sehschwache in Potsdam Von Michael Erbach „Das Programm liegt auf den Tischen aus. Wer es lesen kann, der liest es seinem blinden Nachbarn vor“, ruft Reinhard König in den Saal. König ist Vorsitzender der Vereins Sozialwerk Potsdam, der sich seit 13 Jahren um die Blinden und Sehschwachen Potsdams kümmert und der an diesem Samstag zum traditionellen Winzerfest in den „Seekrug“ geladen hat. Es scheint kein gewöhnliches Fest zu sein, auffällig viele ältere Menschen und Menschen mit Behinderung bestimmen das Bild im Saal. Doch diese Menschen sind genauso fröhlich beim Feiern wie die so genannten Nichtbehinderten. Das merkt man ganz schnell. Kaffee und Kuchen gibt es, und natürlich gehört der Wein mit dazu. Zu den Liedern, die Michael Hähnel, ein junger Blinder, auf dem Keyboard spielt, wird lautstark mitgesungen und später wird auch das Ehepaar Baller, das mit Liedern und Gedichten erfreut, mit viel Beifall bedacht. Besonders freuen sich Mitglieder und Freunde des Vereins, dass Ministerpräsident Matthias Platzeck den Weg in die Gaststätte am Stadtrand gefunden hat. Die Sozialbeigeordnete Elona Müller ist gekommen, der dem Verein verbundene Rektor der Potsdamer Universität, Wolfgang Loschelder, und auch ein paar der Kandidaten für die Stadtverordnetenversammlung, die am 26. Oktober auch von Blinden und Sehschwachen mitbestimmt wird. Platzeck spricht dem Verein seine Hochachtung aus und verweist darauf, dass es immer wichtiger werde, nicht nur Fürsorge zu bieten, sondern Teilhabe am Leben zu organisieren. „Dafür brauchen wir entsprechende Strukturen.“ Was der Behindertenbeauftragte der Stadt, Uwe Högemann, gleich aufgreift. Die Finanzierung der Beratungsstellen für Blinde, Sehschwache sowie Gehörlose für 2004 sei keineswegs sicher, sorgt er sich. Der Grund: Bislang enthielten die Zuweisungen des Landes an die Kommunen eine zweckbestimmte Summe für soziale Aufgaben. Diese Zweckbestimmung fällt weg. Högemann sieht die Gefahr, dass die als freiwillige Aufgabe geltende Behindertenberatung dann nicht mehr finanziert wird. Da diese spezifische Betreuung durch das Gesundheitsamt jedoch nicht gewährleistet werden könne, „würde sie ganz wegfallen“. Elona Müller beeilt sich zu versichern, dass die Mittel für die Beratungsstellen „angemeldet“ seien, aber Högemann bleibt misstrauisch. „Jetzt, vor der Wahl, sagt sowieso keiner was.“ Während des Festes werden auch zahlreiche Helfer ausgezeichnet, die am Brandenburg-Tag im September an vier Ständen über die Arbeit des Vereins und die Probleme von Blinden und Sehschwachen informierten. Teilhabe findet also statt – mit dem Sozialwerk Potsdam e.V., der nicht nur über Högemann, sondern auch selbst mit „freundlicher Penetranz“ (Platzeck) für seine Interessen streitet. Noch gebe es viel zu tun, bis Potsdam eine behindertenfreundliche Stadt sei, sagt Högemann. Wie Recht er hat: So fehlt dem „Seekrug“ bis heute eine Rampe, um Rollstuhlfahrern den Zutritt leicht zu machen. Auf dem Tisch für die Ehrengäste liegt ein Alphabet in Blindenschrift aus. Ob es an Platzecks ohnehin kräftigem Händedruck liegt - ihm jedenfalls gelingt es nicht, die Buchstaben zu ertasten. Aber auch andere haben ihre Probleme damit. Müller: „Wir müssen noch mehr Verständnis für Behinderte entwickeln. Man sollte nur einmal für eine halbe Stunde die Augen schließen, um zu merken, was Blindsein bedeutet“ Dass es auch bedeuten kann, dennoch viel Spaß am Leben zu haben, das zeigte das fröhliche Winzerfest wieder einmal eindrucksvoll.
Michael Erbach
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