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DICHTER Dran: Einunddreißig

Seit Tagen plagt mich ein Ohrenschmerz. Sobald ich den Mund öffne, schnellt eine glühende Speerspitze aus dem Rachen ins Ohr hinauf und vernebelt mir die Sinne.

Stand:

Seit Tagen plagt mich ein Ohrenschmerz. Sobald ich den Mund öffne, schnellt eine glühende Speerspitze aus dem Rachen ins Ohr hinauf und vernebelt mir die Sinne. Der Schmerz erinnert daran, dass alles in uns mit allem verbunden ist: der Mund mit dem Rachen, der Rachen mit dem Ohr, das Ohr mit dem Gehirn. Die HNO-Ärztin hat mir ein Spray verschrieben, das durch die Nase in den Rachen geschossen werden muss. Wenn es nicht besser wird, sagt sie, hilft nur noch Antibiotikum.

Draußen regnet sich das Jahr seinem Ende entgegen. Christa Wolf wurde beerdigt. Die Trauernden wischten sich Tropfen aus dem Gesicht. Christa Wolf ist die erste öffentliche Person, deren Tod mir unbegreiflich ist. Ich habe sie nie kennengelernt, ich habe nur etwa die Hälfte ihrer Bücher gelesen, aber sie war so verlässlich da wie der Mond.

Der Mond, der in diesem klaren Herbst überdurchschnittlich oft grell am Himmel stand. Nie habe ich einen November wie diesen erlebt. Ein November, in dem die Sonne gegen drei Uhr nachmittags den Horizont berührte. Sie stand so flach, dass selbst die heruntergefallenen Eicheln im Park lange schlanke Schatten warfen. Noch nie hatte ich die Sonne halb vier Uhr nachmittags untergehen sehen, außer in Schweden. Ich dachte, es müsse sich um eine Sinnestäuschung handeln, bis mir einfiel: Ein November hat gewöhnlich keine Sonne. Deshalb hatte ich es nie gesehen.

Meine letzte Kolumne ist die einunddreißigste. Eine ungerade Zahl, aber ein gutes Alter. Im 31. Lebensjahr hatte ich mich fürs Leben verliebt. Ich hatte mein viertes Buch veröffentlicht. Ich war angekommen. Erwachsen. Der Monat, den jedes neue Jahr zunächst berührt, hat 31 Tage. Die weißen Tasten des Klaviers entsprechen den Monaten mit 31 Tagen. Die 31 gehört zu den glücklichen Primzahlen. Sie wird nie gestrichen. (Ich verstehe nicht, warum, aber man kann es im Internet nachlesen.) Eigentlich hätte ich mit der 32. Kolumne aufgehört. Nur vergaß ich im August, meine Kolumne zu schreiben. Die 32 ist eine Zahl, die früh gestrichen wird. Sehen Sie, wie alles verbunden ist? Christa Wolf, mein Ohrenschmerz und der Mond?

Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt in Potsdam und veröffentlichte zuletzt „Sturz der Tage in die Nacht“. Ihr Buch für Weihnachten: „Vom Dorf. Abenteuergeschichten zum Fest“, dtv

Antje Rávic Strubel

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