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DICHTER Dran: Ende in Sicht

Seit ein paar Tagen weiß ich: dies wird meine vorletzte Kolumne sein. Die Kolumnisten werden zum Jahreswechsel ausgetauscht.

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Seit ein paar Tagen weiß ich: dies wird meine vorletzte Kolumne sein. Die Kolumnisten werden zum Jahreswechsel ausgetauscht. Es muss Abwechslung geben in einer Zeitung. Seit ein paar Tagen denke ich darüber nach, was ich alles noch schreiben muss, welche Themen ich unbedingt noch ansprechen wollte, aber mir fällt nichts ein. Mir fehlen die richtigen Worte. Ich sitze an meinem Schreibtisch, der Hochnebel hat die Bäume und Dächer gegenüber fest im Griff, und ich habe das, was man im Sprachgebrauch der Kreativen eine Blockade nennt. Ich mache Notizen. 1) Mobbing an Potsdamer Schulen gegen lesbische und schwule Schüler verbinden mit Friedrich II. und „Darkroom“ Sanssouci. 2) Das Einlagern der Sommerräder als Anlass, die eingelagerte DDR-Atmo in der Garagen-„Idylle“ Am Mittelbusch zu beschreiben. 3) Die Angst der Schuhverkäuferin vor der Kälte und die Schwibbögen in den Fenstern, Bergarbeiterlicht, überleiten zum Mindestlohn. „Jetzt komm ich noch zweimal und dann nimmermehr“, sagt die Königin zu ihrem Kind im Märchen. Die Stelle aus „Brüderchen und Schwesterchen“ hat mich immer am meisten gegruselt. Sie ist von so einer Endgültigkeit. Von einer solchen Vergeblichkeit. Wozu noch zweimal, wenn es keinmal mehr geben wird? Wozu noch Worte verlieren? Die Frage von Journalisten, wenn ihnen nichts mehr einfällt, lautet: „Gibt es etwas, das Sie schon immer mal sagen wollten?“ Nein. Denn dann habe ich es schon gesagt. Ist das Ende in Sicht, bekommt alles eine falsche Dringlichkeit. Jetzt-oder-nie gilt als die ultimative Steigerung der Bedeutung aller Dinge, sorgt aber meistens für einen leeren Kopf. Nur in schlechten Filmen gibt es Abschiede mit Tusch. Auf einmal wollen die Figuren ihre Versäumnisse nachholen, sie reden ohne Unterlass, beschwören fiktive Gefühle, versichern einander ihrer Liebe. Im Leben ist es in diesen Momenten still. Als meine Tante starb, war ich fünfzehn. Die Mauer war gerade gefallen. Die Neuigkeiten überschlugen sich. Ich sagte kein Wort. Ich konnte mich auch nicht von ihr verabschieden. Mein Kopf war leer. Noch einmal und dann nimmermehr.

Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt in Potsdam und veröffentlichte zuletzt „Sturz der Tage in die Nacht“. Ihr Buch für Weihnachten: „Vom Dorf. Abenteuergeschichten zum Fest“, dtv.

Antje Rávic Strubel

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