
© dpa
Von Anja Priewe: Eng mit dem Glauben verbunden
In Europa einmalig: An der Uni Potsdam werden jüdische Kantoren ausgebildet
Stand:
Kreischend vor Vergnügen rennt ein kleiner Junge im grauen Anzug durch den Gemeindesaal. Zwei ebenso festlich gekleidete ältere Mädchen folgen ihm. Unbeirrt vom Kindergeschrei schauen die Gemeindemitglieder in die Notenblätter. „Chanukkia Li Jesch“, heißt das Lied, das die Kantorenstudenten Aviv Weinberg, Nikola David, Isidoro Abramovicz und Alexander Zakharenko mit der Gemeinde singen. Das Lied erzählt vom achttägigen Lichterfest „Chanukka“, das die Jüdische Gemeinde Berlin in diesen Tagen feiert. Dabei machen die vier angehenden Kantoren auf der Bühne vor, was die Anwesenden nachahmen. Sie klatschen in die Hände und werfen ihrem Gegenüber einladende Gesten zu.
Als das Lied zu Ende ist, nimmt Nikola David das „dienende Feuer“, das im Judentum als Schamasch-Licht bezeichnet wird, und entzündet drei Kerzen. In diesem Moment ruhen alle Blicke auf ihm. Selbst die Kinder unterbrechen kurz ihr Spiel. Staunend richten sie ihre Aufmerksamkeit auf den achtarmigen goldenen Leuchter in der Mitte des Gemeindesaals.
Dann stimmen Aviv, Nikola, Isidoro und Alexander eine weitere Melodie an. Sogar das italienische Fernsehen ist gekommen, um von ihrem Konzert am dritten Adventssonntag zu berichten. Endlich können die vier zeigen, was sie in den vergangenen Monaten am Jewish Institut of Cantorial Arts gelernt haben. Hier sollen sie in acht Semestern zu jüdischen Kantoren ausgebildet werden. Die Einrichtung, die der Universität Potsdam angegliedert ist, nahm im September 2008 die ersten Studenten auf. Europaweit ist es das einzige Ausbildungsprogramm für jüdische Kantoren. Damit soll eine Lücke geschlossen werden, die durch den Holocaust in der Kantorenausbildung entstanden ist.
Als „Vorbeter“ kommt dem Kantor in einer jüdischen Gemeinde eine große Verantwortung zu. Anders als im christlichen Glauben, wo der Kantor an der Orgel sitzt, leitet er mit seinem Gesang den Gottesdienst. Mit dem Holocaust ist diese Tradition jedoch weitgehend verloren gegangen. Dass soll sich jetzt ändern. Dafür belegen die Studenten an der Universität Potsdam Seminare in den Bereichen Musikwissenschaft, Praktischer Gesang, Jüdische Kultur und Geschichte, sowie in hebräischer Bibelkunde. „Die Ausbildung in Potsdam ist sehr umfassend. Ich lerne viel über meine eigenen Wurzeln, die mehr und mehr verloren gegangen sind“, erzählt Isidoro. Er möchte diese Traditionen bewahren und weitergeben.
Ein sicherer Arbeitsplatz nach Abschluss ihres Studiums ist den vier Studenten gewiss. In den über 80 jüdischen Gemeinden in Deutschland werden Kantoren händeringend gesucht. Es war dieser eklatante Mangel an qualifizierter Leitung, der die Kantorin Mimi Sheffer dazu bewog 2007 die Direktion des Instituts zu übernehmen. „Ich wollte den Gemeinden helfen und ihnen durch die Musik ihre Religion ein Stück zurückgeben“, sagt sie.
Für diese Aufgabe bedarf es mehr als lediglich eine gute Stimme, weiß Mimi Sheffer: „Ein Kantor muss mit seiner Musik etwas bewirken wollen und können. Er ist es, der die Gemeinde durch den Gottesdienst führt. Nach wie vor fehlt diese Leadership-Funktion in den meisten deutschen Gemeinden“, stellt sie mit großem Bedauern fest. Dass es jetzt gleich vier Stipendiaten gibt, erfüllt sie mit Stolz.
Isidoro Abramovicz ist einer von ihnen. Er kommt aus Buenos Aires und ist mit jüdischer Musik aufgewachsen. Seine Mutter war Musiklehrerin in Israel und sang ihm schon als Kind vor. Nach dem Klavierstudium am argentinischen Nationalkonservatorium absolvierte er eine Ausbildung zum Chorleiter und führte verschiedene Gesangsensembles in Köln, Oldenburg und Berlin. Der 37-jährige Familienvater hat für jeden ein freundliches Lachen. Während des Konzerts geht er auf die Kinder zu und holt sie auf die Bühne. Bei ihm kann man sich gut vorstellen, dass er später einmal eine Gemeinde leiten wird. „Die Synagogalmusik erzählt meine Geschichte und ist eng verbunden mit meinem Glauben“, erklärt er.
Sein Kommilitone Nikola David stimmt ihm zu. Auch er hat bereits eine umfassende musikalische Ausbildung hinter sich, arbeitete 15 Jahre an den großen Opernhäusern in Serbien und Kroatien, bevor ihn sein Weg über Augsburg nach Potsdam führte. Die jüdischen Traditionen in seinem späteren Beruf weiterzugeben, ist ihm wichtig: „Für mich macht es einen großen Unterschied, ob ich bei einem weltlichen Konzert singe oder mit meiner Musik den Gottesdienst gestalte.“
Vor zwei Monaten wurde das Jewish Institut of Cantorial Arts von dem Innovationswettbewerb „365 Orte im Land der Ideen“ ausgezeichnet. Mimi Sheffer bedeutet der Preis sehr viel: „Er zeigt, dass wir in Deutschland wahrgenommen werden und unser Projekt anderen Menschen wichtig ist. Das ist ein tolles Gefühl.“
Anja Priewe
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: