DICHTER Dran: Erdbebenwetter und Vulkangewitter
Ich kann diesmal nichts über Potsdam schreiben. Ich habe keine Ahnung, was in Potsdam los ist.
Stand:
Ich kann diesmal nichts über Potsdam schreiben. Ich habe keine Ahnung, was in Potsdam los ist. Ich komme nicht rein. Seit mein Rückflug gestrichen wurde, sitze ich in L.A. fest. Das habe ich auch der Freundin gesagt, die mich anrief, um mich auf ein Bier einzuladen. Sie sei gerade in Potsdam auf Landpartie. Ich stellte mir vor, wie ihre Autoreifen in der Asche auf der Glienicker Brücke durchdrehen, wie die Ladenbesitzer auf dem Broadway ihre Jalousien so weit wie möglich herablassen, um die Kunden vor Magma-Splittern zu schützen, die Leute wabernde Schatten im Nebel, auf dem Schaum der Biere, die im Freien serviert werden, Partikel des isländischen Erdinneren, die Segel der Boote schlaff im Qualm. „Keine Spur“, sagte die Freundin, „hier ist strahlende Sonne.“ In L.A. dagegen herrscht Erdbebenwetter. Den April hat die Stadt zum Erdbebenmonat erklärt, man erwartet jeden Moment, dass die Erdplatten wanken. How to roll, when it rocks, lautet der Schriftzug, mit dem die Stadt auf Plakaten an Straßenrändern ihre Bürger auf die bevorstehende Katastrophe aufmerksam machen will. Ich hielt es zunächst für die Werbung für einen neuen 3-D-Blockbustermovie. L.A. ist cool. Auch eine Erdbebenwarnung klingt wie Entertainment. In der L.A.-Times gibt es Doppelseiten mit Ratschlägen für den Fall der Katastrophe: genug Trinkwasser, Büchsennahrung, Werkzeug. Daneben die Meldung, dass L.A. im Juni pleite sein wird. Dann muss die Stadt ein paar Millionen aus der eisernen Reserve für Notfälle abschöpfen, auch wenn die Erde noch gar nicht gebebt hat. Ein speiender Vulkan in Europa wirkt da wie eine Kleinigkeit. Kein Mensch versteht, wieso der alte Kontinent deshalb komplett dicht macht. In Europa dagegen betet man die Wolke schon an. Man vergisst, sie zu messen, und findet keinen Hubschrauber für Angela Merkel, mit dem sie einfach drunter durchfliegen könnte. Die Wolke ist heilig. Nur deshalb reist eine Kanzlerin mit der Kutsche von Dorf zu Dorf.
Sie ist heilig, weil auch der alte Teil der Welt endlich seine Naturkatastrophe hat, die für die bevorstehende Pleite verantwortlich gemacht werden kann.
Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.
Antje Rávic Strubel
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: