Homepage: Erinnerungen aus dem Koffer
Die Fachhochschule Potsdam startete ein Projekt zur Förderung der Kreativität in der frühen Kindheit
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Kofferpacken. Welch erwartungsfrohe Tätigkeit! Es geht auf eine Reise. Aber was muss mit? Welche Dinge sind unverzichtbar – für einen selbst oder das, was man vorhat?
Die 30 Frauen, die sich kürzlich in der Potsdamer Fachhochschule trafen, treten eine Reise an, die ein Leben lang dauern wird. Sie alle werden in den kommenden Monaten Mutter. Zum bevorstehenden Ereignis hat ihnen die Fachhochschule einen Koffer geschenkt, gefüllt mit ausgesuchten Utensilien, die ihnen bald von Nutzen sein könnten. Keine Erstausstattung, auch nicht die übliche Werbepackung Windeln oder Babycrème. Stattdessen enthalten die robusten, nietenbeschlagenen Pappkoffer wertvollen „Krimskrams“: verschieden große Holzklötzchen, ein Stück Borke, ein Kienapfel, bunte Perlen, Wachsquader zum Stapeln und Malen, Spiegelfolie für die Selbstbetrachtung, eine Decke zum Kuscheln und Verkleiden, ein Buch und einen weiteren Koffer, den kleine Kinder gern mit sich herumschleppen, um ihn ihrerseits mit Krimskrams zu füllen.
Die schwangeren Frauen und ihre Familien, die diesen Koffer mit nach Hause genommen haben, beteiligen sich an einem Pilotprojekt zur Kreativitätsförderung in der frühen Kindheit. Sind ihre Kinder geboren, wollen sie sich in den ersten zwei Lebensjahren zu einer Reihe von Workshops in der Fachhochschule zusammenfinden, um Erfahrungen auszutauschen und unter Anleitung von Frühpädagogen und Künstlern zu lernen, die schöpferischen Kräfte ihrer Kinder zu erkennen und zu entfalten.
„Kinder sind von Geburt an kreativ“, weiß Dr. Kirsten Winderlich, die das Projekt leitet und wissenschaftlich begleitet. Die Welt Stück für Stück zu entdecken, die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen und sich anzueignen, sei ein schöpferischer Prozess, der mit dem ersten Lebenstag beginne. „Kreativität von Anfang an“, heißt folgerichtig das Motto des wissenschaftlichen Projekts, das von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert und in Kooperation mit dem Familienzentrum der Fachhochschule und dem Studiengang „Bildung und Erziehung in der Kindheit“ konzipiert wurde.
Der von der FH entwickelte „Kreativitätskoffer“ nimmt im Projekt eine zentrale Stellung ein. Noch bevor ihr Kind geboren ist, sollen die werdenden Eltern darin herumstöbern, sich anhand der Gegenstände an ihre eigenen frühen Entdeckungen erinnern und über das Kindsein nachdenken. „Es geht darum, sich auf die kindliche Wahrnehmung einzulassen, die Dinge in die Hand zu nehmen, daran zu riechen, ihre Beschaffenheit zu ertasten und damit zu spielen“, erklärt Kirsten Winderlich, die nicht nur pädagogisch, sondern auch als Mutter von vier Kindern weiß, wovon sie spricht. „Wir Eltern neigen mitunter dazu, unsere eigenen Vorstellungen dem Kind überzustülpen. Wenn wir ihnen aber stets fertige Lösungen präsentieren, nehmen wir ihnen den Raum und die Möglichkeit, die Dinge selbst zu entdecken.“
Sinnvoller sei es, sich mit dem Kind tatsächlich auf Augenhöhe zu begeben, seinen Blicken und Beobachtungen zu folgen, um zu verstehen, was in ihm vorgeht, welches Phänomen gerade seine ganze Aufmerksamkeit gefangen nimmt. Eine immer wieder vom Tisch rollende Kugel oder das Quietschen einer stoisch hin- und herbewegten Schranktür als Lernprozess zu erkennen, setze jedoch entsprechendes Wissen und Respekt gegenüber dem Forschungsinteresse des Kindes voraus. Beides soll während der zweijährigen Projektphase vermittelt werden. Kirsten Winderlich wird dazu mit den Eltern narrative Interviews führen und wissenschaftlich auswerten. Fotografien von den Workshops sollen später als Wanderausstellung in Entbindungsstationen und Geburtshäusern für die kindliche Wahrnehmung sensibilisieren.
Ziel ist es, den Kreativitätskoffer so weiterzuentwickeln, dass ihn künftig möglichst viele Mütter zur Entbindung erhalten können. Kirsten Winderlich hofft, dass sich am Ende des Projekts der Inhalt der einzelnen Koffer verändert hat. Angereichert mit den Entdeckungen der Familien, könnte er sich zum Erinnerungskoffer wandeln, den die erwachsen gewordenen Kinder später mit ihrem eigenen Nachwuchs erneut öffnen werden.
Antje Horn-Conrad
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