zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Erwachsenen trauen lernen

Schüler aus Beslan in Nord-Ossetien besuchten das Humboldt-Gymnasium und das Krongut

Stand:

Schüler aus Beslan in Nord-Ossetien besuchten das Humboldt-Gymnasium und das Krongut Von Guido Berg Der Anruf kam vor eineinhalb Wochen. Kinder aus Beslan würden das Humboldt-Gymnasium besuchen. Kinder aus der Schule, die es nicht mehr gibt. Es war der Tag des Schulanfangs, der erste September. Terroristen nehmen 1180 Kinder, Eltern und Lehrer an der Schule in Beslan als Geiseln. Nach drei Tagen der Angst, des Durstes und der verzweifelten Hoffnung verüben die Geiselnehmer ein Blutbad. Über 400 Menschen sterben, darunter viele Schüler. Kein Humanist auf dieser Welt wird die gesendeten Fernsehbilder je wieder vergessen. Wie geht es erst denen, die dabei waren, überlebten, liebe Menschen verloren? 18 von ihnen, Schüler aus Beslan, werden gleich den Klassenraum betreten. Die Schüler des Russischkurses der 13.Klassen sind unruhig. Sie sind gut vorbereitet, haben Kuchen gebacken und Begrüßungstexte in russischer Sprache geschrieben. Aber sie können nicht gut genug darauf vorbereitet sein, die Schüler aus Nord-Ossetien auf die drei Tage anzusprechen, da Erwachsene ihnen die Hölle auf Erden bereiteten, da der Ernst des Lebens auf unfassbare Weise über sie hereinbrach. „Uns fehlen die Sprachkenntnisse, um mit ihnen darüber zu sprechen“, sagt Abiturientin Dorina Hensel einfach. Alle neun Humboldtianer haben sich vor Jahren sehr bewusst für Russisch entschieden. Das Alphabet sei schnell zu erlernen. Zudem: „Man spricht Russisch so, wie es da steht. Ganz anders als im Französischen“, findet Jana Schuck. Das Geiseldrama haben sie im Unterricht behandelt. Lehrerin Heidrun Hinze hat Artikel russischer Zeitungen aus dem Internet kopiert. Die haben sie übersetzt. Nun sind sie da. Zwanglos schlendern sie in den Raum, setzen sich an weihnachtliche Tische. Schüler zwischen zehn und 16 Jahren, etwa müde noch, teilweise blass im Gesicht. Augenringe können auch durch straffe Besuchsprogramme entstehen. Sie waren schon in Berlin, in Dresden, in Leipzig. Am 23. Dezember geht es zurück in die Heimat. Ani Hambaryan ist „mit Abstand“ die mit den besten Russisch-Kenntnissen bei den Humboldtianern. Seit sechs Jahren ist sie in Potsdam, geboren ist sie in Armenien. Ani heißt die Beslaner willkommen, natürlich auf Russisch. „Ja xotschu goworitch w naschoi gorod“ – Ich will über unsere Stadt sprechen, beginnt danach Falko Mathews seinen Vortrag. „Corok-schect Schkoloi“ gibt es in Potsdam, 42 Schulen. Dann leichte Annäherung im Gespräch. Gefällt Euch Deutschland? „Natürlich.“ Und was gefällt euch? „Die Kultur, die Menschen, die Autos“, antwortet Alan aus Beslan. In der Aula wird den Gästen eine klassische Weihnachtsfeier geboten, mit einer meterhohen geschmückten Tanne neben dem Klavier. Die neue Direktorin Carola Gnadt überrascht mit einer Begrüßung in fließendem Russisch: „Unser Weihnachtsmann ist euer Väterchen Frost.“ Nachdem er im Chor gerufen wurde, kommt er herein, der Weihnachtsmann, der in Russland Det Moroc heißt und hier von den Eingeweihten schnell als Falko Mathews enttarnt wird, der groß gewachsene Schüler aus der Russisch-Klasse. Mit Handschlag begrüßt er jeden einzelnen Schüler aus Beslan. Dann verteilt er die Geschenke. Zwischendurch muss er sich ausruhen und verlangt nach einem Lied. Immer wieder stimmen die Humboldtianer klassische deutsche Weihnachtslieder an. „Bald nun ist Weihnachtszeit“, „Vorfreude, schönste Freude“, „Sind die Lichter angezündet“. Eine fast sakrale Stimmung erfüllt die sonnendurchflutete Aula. Die Seele geht auf Samt, wenn die Humboldtianer singen. Liedzeilen erscheinen nun doppeldeutig: „Wisst Ihr noch vom vorigen Jahr, wie es Heiligabend war?“ „Hoffentlich wird es im nächsten Jahr gut.“ „ überall soll Freude sein, überall soll Friede sein“. Die Bescherung ist vorbei, Falko Mathews tritt aus der Aula und reißt sich den Bart vom Gesicht. „Mann, war das heiß“. Dann kommen die Beslaner hinterher, er will sich wegdrücken, doch sie finden ihn, klopfen ihm auf die Schulter, sagen „Xoroscho – gut gemacht“. Sie glauben nicht mehr an den Weihnachtsmann. Nächste Station ihres Potsdam-Besuches ist das Krongut Bornstedt. Es gibt wieder Essen, wieder etwas zu trinken, „Schai“ – Tee, Obstsäfte, Cola. Mit den Schülern sind Lehrerinnen und Betreuer angereist. Auch Jean Batijewa, Psychologin. Ob die Reise der Schüler deren Leid mildern könne, wird sie gefragt. „Mildern ist das richtige Wort“, sagt sie. Die Kinder müssten erst wieder das Vertrauen in die Erwachsenen zurück gewinnen. Sie haben eine Situation erlebt, wo Erwachsene sie nicht richtig in Schutz nehmen konnten. Nun sehen sie, dass Erwachsene sich Mühe geben. Das reiche, spannende Programm ist gut für die Kinder. So haben sie keine Zeit, sich in ihre Gedanken zurückzuziehen. Es gibt Geschenke vom neuen Bildungsminister Holger Rupprecht. Bis vor zehn Wochen war er noch Direktor des Humboldt-Gymnasiums. Er hofft, die Beslaner Schüler hatten dort einen schönen Vormittag. Weihnachten, sagt er, ist für ihn auch deshalb eine schöne Zeit, „weil mein Name auf Deutsch sinngemäß dasselbe bedeutet wie Väterchen Frost auf Russisch – Knecht Rupprecht“. Nach der Übersetzung lachen die Schüler, schauen sich den Mann im Bart genauer an. Ein Schuldirektor, der Minister wird und Väterchen Frost heißt. Interessant. Auf dem Krongut-Weihnachtsmarkt kommen die original-holländischen „Poffertjes“ von Monique Aaldering gut an, bei Marion Linde kaufen die Mädchen Weihnachtsgestecke. Der kleinen Lena gefallen die Kirchen in Potsdam. Natürlich, sagt sie, hat sie auch Sehnsucht nach Beslan. „Es ist ein gemischtes Gefühl.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })