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Von Dirk Becker: Es gibt keine spezifische Gewalt

Historiker, Sozialwissenschaftler und Politiker diskutieren in Potsdam über die Krisenregion Balkan

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Gewalt bestimmt unser Bild vom Balkan. Nach dem Zusammenbruch des jugoslawischen Staates Anfang der 90er Jahre prägten Bürgerkriege und ethnische Vertreibungen diese Region im Südosten Europas. Das Ausmaß, in dem in diesen Kriegen die Zivilbevölkerung betroffen war, wie hier die Grenzen zwischen den Kriegführenden und den Zivilisten verschwammen, zum Teil sogar aufgelöst wurden, hat die Öffentlichkeit nicht nur in Europa erschüttert. Die Antworten auf die Frage nach der Ursachen für diese enthemmte Gewalt wurden in ethnischen, religiösen und nationalistischen Grundkonflikten gesucht, die in der Geschichte des Balkans immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen geführt haben sollen. Frieden scheint in dieser Region nur durch äußeren Zwang möglich. Selbst von einer spezifischen Gewalt am Balkan ist wiederholt die Rede. Doch wie so oft ist dieser Blick aus der Ferne, diese Art von Erklärungsversuchen nur bedingt tauglich.

Als Symptome aber nicht als Ursachen bezeichnete Holm Sundhaussen in seinem Vortrag „Krisenregion Balkan“ am Montag im Kongresshotel am Luftschiffhafen die ethnischen, religiösen und auch nationalistischen Differenzen vor Ort. Sein Fazit nach gut 60 Minuten Rede war klar und ernüchternd. Die Gewalt am Balkan sei keine spezifische, die nur den örtlichen Gegebenheiten und einer daraus resultierenden Mentalität geschuldet ist. Mit einer solchen Erklärung würde man es sich zu einfach machen. Zwar müssen bei einer genauen Betrachtungsweise auch die regionalen Aspekte berücksichtigt werden. Doch unterscheide sich die Gewalt am Balkan in ihrem Ursachengeflecht kaum von der in anderen Konflikten, so Sundhaussen.

Sundhaussen, der als Professor für Südosteuropäische Geschichte am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin gelehrt hat und in Deutschland zu den führenden Balkanspezialisten zu zählen ist, beschloss mit seinem Vortrag am Montag den ersten Tag der 49. Internationalen Tagung Militärgeschichte des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam. Noch bis heute werden Historiker, Sozialwissenschaftler und Politiker unter dem Motto „Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt“ über die Region im Südosten Europas diskutieren. Neben historischen Themen wird es auch um die aktuelle Lage am Balkan gehen. Als Referenten sind unter anderem Mehmet Hacisalihoglu von der Yildiz Teknik Universität in Istanbul und Jan Philipp Reemtsma vom Hamburger Institut für Sozialforschung nach Potsdam geladen.

Wer die jüngsten Kriege und Konflikte auf dem Balkan, wie so oft noch, mit ethnischen, religiösen und nationalistischen Ursachen zu erklären versucht, tappe in die Falle der Nationalisten, sagte Holm Sundhaussen. Denn Ethnie, Religion und Nationalität werden in derartigen Konflikt- und Krisensituationen immer wieder zur Abgrenzung gegenüber den Feinden und zur Schaffung einer fragwürdigen Identität und Solidarität innerhalb einer Gruppe Gleichgesinnter instrumentalisiert. Alles folge einem simplen Muster.

Auf die erste Gewalt, die oft geplant ist, folgen der Schock und das Bedürfnis nach Erklärungen. Solche Erklärungen liefern mit Vorliebe Nationalisten, die eigene Interessen verfolgen, in dem sie Ethnie, Religion und Nationalität instrumentalisieren und so polarisieren. Wer nicht zur gleichen Ethnie, Religion oder Nationalität gehört, wird ausgegrenzt und als Feind gekennzeichnet. Wer dazu gehört, gerät unter Druck, da er sich bekennen muss, weil er sonst zum Verräter an der eigenen Sache wird. Hier prallen indiviudelles Ego und Gruppenego aufeinander, so Sundhaussen. In Krisen- und Konfliktsituationen spielen die Gruppe und der damit verbundene Gruppenzwang eine sehr große Rolle. Auf dem Balkan, der noch sehr stark von autoritären Strukturen geprägt sei, finde sich ein hervorragender Nährboden für solche gruppendynamischen Prozesse.

Besonders deutlich lasse sich am Balkan zeigen, wie Ethnie, Religion und Nationalität als Vehikel für individuelle Interessen missbraucht werden können. Wie Sundhaussen erklärte, sei dieser Raum im Mittelalter und der frühen Neuzeit als Pufferzone zwischen Orient und Okzident vor allem durch Migrationsbewegungen geprägt gewesen. Über 61 Prozent der Familien im sogenannten Kernland, dem heutigen Bosnien und Herzegowina, Serbien, Mazedonien und Bulgarien, hätten sich erst im 19. Jahrhundert angesiedelt. Die so ohnehin schon schwierig zu verortende ethnische Zugehörigkeit, wenn davon überhaupt die Rede sein kann, Sundhaussen sprach von der „Fiktion der Abstammungsgemeinschaft“, sei durch die Religionsvielfalt und eine nur im Ansatz gebliebene Nationenbildung ein noch viel vageres Konstrukt. Was bei den Konflikten auf dem Balkan immer wieder durch Ethnie, Religion und Nationalität erklärt wird, könne so nur als willkürliche Zuordnung angesehen werden. Von einem angeblich „uralten Hass“, der das Leben auf dem Balkan prägt, kann deshalb allein aus der Sicht von Nationalisten die Rede sein.

Dirk Becker

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