Von Guido Berg: Etwas bleibt nach dem Verschwinden
Erforschung der Häftlings-Inschriften in Leistikowstraße 1 erhellt Schicksal von Erika Sagert
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Nauener Vorstadt - Man sieht es nur, wenn man es weiß. Das Kellerloch ist fensterlos, die Wände kalkweiß, leicht bröckelig, unscheinbar und ausdruckslos. Erst der schräg auf die Wand fallende Schein der Taschenlampe schält die Zeichen aus dem Nichts. Da! Ein Name: „Herbert Wüstenberg, Todesstrafe, 14.6.50“ oder hier „Elisabeth Reich, Pankow“.
Mit dem Fingernagel oder einem spitzen Stück Holz schabten Häftlinge des Untersuchungsgefängnisses des sowjetischen Geheimdienstes in der Potsdamer Leistikowstraße Inschriften in die weiße Tünche der Zellenwände. Es waren letzte Lebenszeichen, bevor sie zumeist zur Zwangsarbeit ins berüchtigte nordrussische Gulag Workuta abtransportiert wurden. „Sie wollten nicht vergessen werden“, sagte Gedenkstättenleiterin Dr. Ines Reich gestern vor Journalisten. Seit Januar dieses Jahres werden die Inschriften und Zeichnungen wissenschaftlich untersucht. Zunächst gingen Ines Reich und Restaurator Christoph Gramann von etwa 300 verschiedenen Signaturen aus. Nachdem die grafischen Hinterlassenschaften nun mit Unterstützung der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und der Mittelbrandenburgischen Sparkasse analysiert werden konnten, steht fest: Die Zahl liegt um das Fünffache höher. 1500 Inschriften konnten Ines Reich zufolge ermittelt und dokumentiert werden. Insgesamt wurden 395 deutschsprachige und 519 russischsprachige Inschriften sowie 565 Zeichnungen und Zifferfolgen identifiziert. Fast alle Inschriften aus den Kellerzellen stammen aus der Zeit zwischen 1945 und 1954, offenbar wurden sie danach nicht mehr zur Festsetzung Gefangener genutzt und auch nicht mehr renoviert. Somit liegen den Forschern nun unverfälschte Geschichtszeugnisse vor. „Die Inschriften sind die Stimmen der Inhaftierten, die mit großer Eindringlichkeit zu uns sprechen“, so die Gedenkstättenleiterin.
Unter den 60 Namen, die an den Wänden auf das Schicksal konkreter Personen aufmerksam machen, gehört auch der von Erika Sagert. 1953 war sie mehrere Monate in der Leistikowstraße inhaftiert. Die damals 24-Jährige hatte im frostigen Januar 1953 im „Militärstädtchen Nr. 7“ nach Brennholz gesucht und war festgenommen worden. Wegen Spionage wurde sie in der Kapelle des Kaiserin-Augusta- Stifts verurteilt. „Erika Sagert, Potsdam, 25 J.“ hat sie – mit zehn anderen Frauen in den drei mal vier Meter großen Keller gepfercht – in den Wandanstrich geritzt. „25 J.“ steht für 25 Jahre Arbeitslager. Da die 1929 in Westeregeln (Sachsen-Anhalt) geborene Frau in einer anderen Zelle neben ihrem Namen auch noch den Wohnort „Wilhelmshorst“ in die Wand ritzte, gelang es den Historikern, die Frau ausfindig zu machen. 1955 aus der Haft entlassen, ging Erika Sagert in die Bundesrepublik, wo sie ihren Mann und ihren Sohn wieder traf. Heute lebt sie, schwer erkrankt, in Frankfurt am Main.
Anfang Mai 2010 gab Erika Sagert Mitarbeitern der Gedenkstätte ein Interview. Auf die Frage, warum die Häftlinge auf den Wänden Nachrichten hinterließen, sagte sie: „Wir haben gedacht, wir verschwinden von der Welt. Es geht nach Sibirien und niemand hört, wo wir abgeblieben sind. Es wusste ja niemand So ging es den anderen auch. Die sind ja nicht von zu Hause abgeholt worden – die meisten sind von der Straße auf weggenommen worden. Damit jemand das doch mal sieht, darum macht man das “ Dazu Ines Reich: Mit unserer Forschung „erfüllen wir im besten Sinne die Absicht der Inschriften-Autoren: Wir bringen ihr Schicksal in die Öffentlichkeit.“
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