zum Hauptinhalt

SAMSTAGScocktail: Europäischer Kürbis

Den Haager Straße? Ahnungslosigkeit beim Mann hinterm Lenkrad.

Stand:

Den Haager Straße? Ahnungslosigkeit beim Mann hinterm Lenkrad. Das Europa-Viertel in Frankfurt am Main wuchert so schnell, dass die Navigationsgeräte der Taxifahrer nicht mitkommen. Gemeinsam fragen wir uns bis zum Hotel durch, vor dessen Eingang eine Kuhplastik eine Verbindung zur Welt des Lebendigen herstellen soll. Von meinem Zimmer aus fällt der Blick auf die stadionartige Monstrosität der Halle 3 der Buchmesse. Fluchtinstinkt, von der ersten Sekunde an. Wobei flüchten wenig hülfe: Hinter der Halle liegt die Europa-Allee, eine Art Stalin-Allee des 21. Jahrhunderts – nur hingehuschter, ohne Schmuck. Was hier vor allem durchgeht, ist der Wind. Vielleicht hatten die Erbauer dieser Stein und Glas gewordenen Menschenverachtung ihre Enkel vor Augen, denen sie einmal erzählen wollten von Europa, jenem Ort, wo man den nacktwandigen Häuserblock nur über die Tiefgarage verließ oder höchstens noch, um im morgendlichen Nebel hastig zwei Hemden zur Express-Reinigung zu tragen, dem einzigen Geschäft an dem wie leergefegten Straßenzug, abgesehen von einer japanischen Restaurantkette hinter Spiegelglas und einem Lädchen für Feinkost, in dessen Auslage ein paar Esskastanien und ein Minikürbis traurig darauf warten, zu einem Salat drapiert zu werden. Käme plötzlich von irgendwoher ein Kind angetappt, man würde angesichts dieses Aliens auf die Knie sinken oder laut schreiend davonlaufen. Wenn man in fremden Städten in derlei Gefühlsnot gerät, hilft manchmal Heimatfernsehen. Dann haben sie ihren großen Auftritt, die Sendungen über die Wahl des jährlichen Riesenkürbisses, über Baumbeschneidung, Feuerwehrfeste und Straußenzucht, auch Sendebeiträge über Wasserbüffel im Brandenburgischen sind ja inzwischen sehr beliebt. Aber als ich in meinem Hotelzimmer durch die Kanäle zappe, findet sich nur Al Jazeera, CNN international, CNBC Europe und TV 5 monde, zwischen denen sich heimatliches Regionalfernsehen ausnähme wie eine Kuckucksuhr in einer I-pod-Auslage. Die Provinz erkenne man daran, dass sie unbedingt und überall vorkommen will, hat mal irgendwer gesagt. Wenn sie nicht vorkomme, sei sie nicht nur beleidigt, die Provinz, sondern hochgradig verstört. So saß ich also da, in meinem Hotelzimmer. Das Wohltuende an meiner Lage war nur, dass die Verstörung, die ich meistens meiner Heimat gegenüber empfinde, nun überdeckt war von einer anderen, nämlich der verstörten Sehnsucht nach ihr. So drängt alles in der Welt auf Ausgleich.

Unsere Autorin lebt in Potsdam. Ihr neuer Roman heißt: „Selbstporträt mit Bonaparte“.

Julia Schoch

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })