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SAMSTAGScocktail: Falsche Freunde

Wenn ich mich als Kind in den Ferien bei meiner Oma langweilte, fragte sie jedes Mal: „Hast du denn kein Kammrad hier?“ Meine Oma war im Sachsenanhaltinischen beheimatet.

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Wenn ich mich als Kind in den Ferien bei meiner Oma langweilte, fragte sie jedes Mal: „Hast du denn kein Kammrad hier?“ Meine Oma war im Sachsenanhaltinischen beheimatet. In meinen Ohren klang ‚Kammrad‘ nach einem geheimnisvollen Ding, einer praktischen Erfindung, die man sich über den Kopf rollte, um ohne Ziepen und Zerren aufs herrlichste frisiert das Haus verlassen zu können. Eine Art Pizzaroller für die Haare, wenn ich sowas damals schon gekannt hätte. Als Mittel gegen die Langeweile schlug sie dann häufig vor: „Fahr doch mits Ratt uffn Ziebich“. Etwas, das sie selbst als Kind getan hatte, soweit ich es verstand. Möglicherweise verstand ich es aber auch falsch. Immerhin deutete ich etwa zur selben Zeit die stehende Wendung „Marxengels“ regelmäßig als „Matz der Engel“.

Übersetzer kennen den Ausdruck ‚Falsche Freunde‘, Fallen, in die man beim Übertragen fremder Texte gerne tappt. So ist eine Sache, die im Französischen „blâmable“ ist, im Deutschen tadelnswert und nicht peinlich, und im Rumänischen sollte man auf einer Feier niemals ‚Prost!‘ rufen, da man sein Gegenüber sonst als Dummkopf tituliert. Was ‚Matz den Engel‘ angeht, (ich stellte mir eine Trickfilmfigur vor, Arthur dem Engel nicht unähnlich), war das eine Fehlinterpretation, die sich später als verhängnisvoll hätte herausstellen können, wenn nicht eine Revolution die Furcht vor derlei freiwillig oder unfreiwillig getätigten Witzen bis in alle Ewigkeit verscheucht hätte. Eine Revolution, die, geht man nach den Straßennamen, in dieser Stadt im Übrigen kaum eine Spur hinterlassen zu haben scheint. Immerhin bringt mich eine der wenigen Ausnahmen fast täglich dazu, mich zu fragen, was mein vierjähriger Sohn versteht, wenn ich sage: „Lass uns doch aufn Tschäpe gehen.“ Was stellt er sich vor? Vermutlich wird irgendwann der Zeitpunkt kommen, da die Buchstabenfolge für ihn logisch werden wird wie sich für mich der ‚Ziebich‘ in der Stadt meiner Oma aufgelöst hat. Wenn das Falschhören vorbei ist, ist es auch vorbei mit der Magie. Vielleicht kann sie aber auch jederzeit wieder anfangen. Lastkraftwagen?, frage ich. Nein: Mastkraftwagen, erklärt mein Sohn auf der Ausstellung des Technischen Hilfswerks (die blaue Feuerwehr). Aber wo ist der Mast? frage ich entgeistert zurück. Schon eingefahren, sagt er lässig. Ganz einfach versenkt.

Unsere Autorin lebt in Potsdam. Soeben ist ihr neuer Roman erschienen: „Selbstporträt mit Bonaparte“.

Julia Schoch

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