Von Gabriele Hohenstein: Fehlender Blick in den Spiegel?
Plädoyers im Prozess um tödlichen Tram-Unfall: Entscheidung nächste Woche
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Der Angeklagte versuchte sich zu verteidigen. „Ich habe ordnungsgemäß in den Rückspiegel geschaut. Marc-Philipp muss im toten Winkel gestanden haben. Wenn ich ihn gesehen hätte, wäre ich doch nicht losgefahren“, versicherte Ralf K. gestern nach den Plädoyers um den tödlichen Tram-Unfall vom 14. Juli 2007. „Das Geschehen verfolgt mich noch immer Tag und Nacht.“
Der Straßenbahnfahrer wurde im Herbst vorigen Jahres vom Amtsgericht wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten auf Bewährung verurteilt. Sein Verteidiger legte Rechtsmittel ein, möchte einen Freispruch für den fristlos Entlassenen. Die Staatsanwaltschaft ging gegen die aus ihrer Sicht zu milde Sanktion ebenfalls in Berufung. Am gestrigen sechsten Tag der Verhandlung vor dem Landgericht wiederholte Rechtsanwalt Karsten Beckmann seinen Antrag auf Freispruch. Man könne seinem 48-jährigen Mandanten den tragischen Tod des jungen Potsdamers nicht anlasten, sagte er. „Es war ein Unfall, den Marc-Philipp G. selbst verursacht hat. Er befand sich nach dem Genuss von Alkohol und Cannabis im Rausch. Es war ein sinnloses, abenteuerliches Unterfangen, in einem solchen Zustand in die fahrende Bahn steigen zu wollen.“
Die Anklage wirft Ralf K. vor, in der Unglücksnacht an der Haltestelle Campus-Pappelallee mit geöffneten Türen seiner Tatra-Bahn angefahren zu sein. Dies sei nur möglich, wenn sich der Notfallschalter auf dem Fahrerpult in Position „Eins“ befinde. Marc-Philipp G. versuchte, noch in die Bahn zu gelangen, hielt sich an der letzten Tür des ersten Wagens fest. Dann rutschte er ab, geriet unter die Bahn, wurde vom zweiten Wagen überrollt und verblutete. „Der Angeklagte hätte durch einen Blick in den Spiegel erkennen können, dass sich Marc-Philipp an der Tür festhielt“, stellte die Vertreterin der Staatsanwaltschaft klar. Ralf K. habe auch nicht gesehen, dass noch Fahrgäste in den zweiten Wagen einsteigen wollten. Dazu hätte er sich vor Fahrtantritt über die Position des Notschalters informieren müssen. „Zum Zeitpunkt des Unglücks stand der Schalter auf Eins. Laut Dekra-Gutachten ist es ausgeschlossen, dass ein Losfahren der Bahn mit offenen Türen bei Null möglich ist.“ Ralf K. habe seine Sorgfaltspflicht als Kraftfahrer, dem täglich Menschen anvertraut wurden, verletzt. Die Staatsanwältin beantragte, die Berufung zu verwerfen.
Rechtsanwalt Jörg Lassan – er vertritt die als Nebenklägerin auftretende Mutter des Getöteten – schloss sich dem Antrag der Staatsanwaltschaft an. Marc-Philipp habe nicht aus Übermut gehandelt – er sei einfach der letzte seiner Gruppe gewesen, der einsteigen wollte. Das Urteil wird am 13. Oktober erwartet. Zugleich hat Lassan eine Zivilklage gegen den Potsdamer Verkehrsbetrieb eingelegt – verhandelt werden soll sie aber erst im Februar 2010.
Gabriele Hohenstein
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