
© Manfred Thomas
Landeshauptstadt: Frank fährt zu den Borussen
Warum ein Sehbehinderter, der 16 Jahre lang kaum aus der Wohnung kam, nicht an die Ostsee reisen will
Stand:
Die Sache ist die: Frank Müller* war noch nie so richtig weg. Nun gut, zu DDR-Zeiten war der sehbehinderte Mann einmal an der Ostsee. Auf Rügen? „Ja, Rügen könnte es gewesen sein.“ Aber nachdem seine Mutter 1993 starb, lebte der heute 46-Jährige allein in seiner Wohnung und kam da auch nicht mehr groß raus. Über den Vater lässt sich sagen, dass er vor ein paar Tagen mal angerufen hat. Öffentlich wurde die einsame Situation von Frank Müller durch überquellenden Müll und ein Wespennest auf dem Balkon Aber das Problem ist schon aus der Welt geschafft; Frank Müller hat heute mit Ingrid Bauer eine ehrenamtliche Helferin zur Seite, die ihm beim Aufräumen seiner Wohnung hilft. „Mein Engelchen“, nennt Frank Müller sie.
Doch es kommt noch besser: Nun könnte Frank Müller eine Reise machen, für eine Woche an die Ostsee, an den Timmendorfer Strand. Organisiert wird die Reise durch den Blinden- und Sehschwachenverband Bochum-Wattenscheid, zu dem Petra Junghähnel, Wohnberaterin bei Frank Müllers Vermieter, die Wohngenossenschaft pbg, einen guten Draht hat. Bezahlt würde die Urlaubswoche durch die Bundesbehindertenhilfe, zu dessen Vorsitzenden Axel Heinze Petra Junghähnel ebenfalls einen guten Draht hat.
Aber Frank Müller will nicht. Er hat schlicht Angst davor. „Man muss das verstehen“, sagt Petra Junghähnel, „der junge Mann hat 16 Jahre lang allein herumgewurschtelt.“ Die Menschen sind ihm ein bisschen fremd geworden. Er habe ja auch deshalb nie ausgehen können, weil er arm ist, gibt der EU-Rentner zu bedenken. EU steht in diesem Fall für Erwerbsunfähigkeit.
Verstärkt wird die Furcht vor der Reise auch noch durch den Vorfall vom 9. Januar dieses Jahres. Frank Müller arbeitete als Zeitungsausträger und wurde an diesem Morgen von einem 16-Jährigen „halb tot geschlagen“. Der Jugendliche verlangte Geld, doch der behinderte Mann hatte keines.
„Sie fahren nicht allein“, redet Axel Heinze Frank Müller gut zu. Der Vorstandvorsitzende der Bundesbehindertenhilfe Berlin kam gestern nach Potsdam, um sich eine rollstuhlgerechte Wohnung anzusehen, die die Wohngenossenschaft ausgebaut hat. Nun spricht er Frank Müller Mut zu – durch sein eigenes Beispiel: Selbst mit nur einem Prozent Sehfähigkeit auf beiden Augen ausgestattet, war ihm früh erklärt worden, eine Ausbildung oder ein Studium sei für ihn nicht drin. Der Zufall kam ihm zu Hilfe: Ein Freund bastelte an seinem Fotoapparat und sagte, er solle doch mal eine Objektiv-Linse halten. Heinze jedoch klemmte sie sich hinter die Brille und sah, dass er damit Lesen kann! Später studierte Heinze vier Studiengänge parallel – Informatik, Volks- und Betriebswirtschaftslehre, Psychologie – und gründete mehrere Firmen. Schon mit 16 Jahren reiste er allein nach Sizilien. Das Motto seiner Mutter lautete: Lass dir zeigen, wie du es allein schaffen kannst.
„Von Potsdam an die Ostsee ist keine Weltreise“, sagt Heinze zu Frank Müller. Auf der Tour werde es Begleiter geben; alles werde organisiert sein. Aber wenn er wolle, könne er vorher ein Mobilitätstraining machen. Ein Trainer könne mit ihm üben, „was Sie künftig beherrschen wollen“. Es sei wichtig, dass Behinderte sich künftig verstärkt um sich selbst kümmern können. Das steigere deren Lebensqualität und erspare der Allgemeinheit Kosten.
Frank Müller scheint angesteckt zu sein durch Heinzes Art, sich nicht behindern zu lassen. Es müsse vielleicht nicht gleich der Timmendorfer Strand sein Aber ein einziges Mal dabei sein, wenn Borussia Dortmund im Westfalenstadion vor 80 000 Leuten gegen Schalke spielt. Das wäre was! Axel Heinzes Reaktion: „Ich kümmere mich darum.“ Guido Berg
(*Name von der Redaktion geändert)
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