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Landeshauptstadt: Freiheit des Andersdenkenden

Proteste und Rangeleien im Vorfeld der Lesung Thilo Sarrazins im Nikolaisaal

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Innenstadt - Von Thilo Sarrazin ist noch nichts zu sehen, da hat ein Anwohner bereits den Eindruck, „das letzte Mal war vor dem Nikolaisaal so ein Auflauf, als die Puhdys hier spielten“. Allerdings sollte sich die Szenerie am gestrigen Abend in der Potsdamer Wilhelm-Staab-Straße noch bis zur Stones-Tauglichkeit steigern: Zur Eröffnung der Lesereise mit dem Autor des heftig umstrittenen Buches „Deutschland schafft sich ab“ ist von Presse, Radio und Fernsehen präsent, was in der deutschen Medienlandschaft Rang und Namen hat. Bereits früh am Abend sammeln sich vor allem linke Jugendliche, um gegen Sarrazins Thesen zu protestieren. Ein älterer Anwohner hat die Hoffnung, dass sich auch im Innern, im Nikolaisaal, „gutbürgerlicher Protest“ regt. Selbst wenn Sarrazin später auch Applaus ernten wird: Es sollte kein Heimspiel werden für den früheren Berliner Finanzsenator. Auf einem Plakat, das aus einem Fenster hängt, steht: „Sarrazin schafft sich ab.“

Der Stadtverordnete Gregor Voehse (Die Andere) ist in seiner Funktion als Streetworker erschienen, „um mäßigend einzuwirken“, auf die Protestanten, aber und auch auf die Polizisten. Er sieht das mit Sarrazin so: Die Jugendlichen würden leicht durch den ausländerfeindlichen Duktus infiziert. Eine latent-rassistische Haltung werde durch Sarrazin wieder hoffähig gemacht.

Gegen 18.30 Uhr beginnt die von Holger Zschoge angemeldete Demonstration. Jugendliche, teils mit schwarzen Kapuzen, entfalten Transparente, auf denen sie „Kein Podium für Rassisten“ fordern oder „Keine Toleranz für RasistInnen“ – in dieser Schreibweise. Ein Berliner fragt, was das hier werden soll: „Deutschland sucht den Superstar?“ Während vom roten Lautsprecherwagen der Linksjugend die ersten antifaschistischen Lieder ertönen, wird deutlich, das nicht nur Deutschland an diesem Abend nach Potsdam schaut; ein russischer Reporter instruiert seinen Kameramann, eine französische Reporterin steigt aus dem Taxi, das vor dem Nikolaisaal wegen der Menschenmenge kaum mehr voran kommt. Vom Lautsprecherwagen aus kommt der Aufruf, sich dort Trillerpfeifen abzuholen. „Wir sind gut aufgestellt“, sagt Polizeisprecher Mario Heinemann, was die Beamten auch unter Beweis stellen, als sie vier Gegendemonstranten beiseite drängen, auf deren Schildern Sätze stehen wie „Thilo, ohne dich stirbt Deutschland“. Allerdings keimt bald der Verdacht, dass die vier „Neonazis“ keine echten sind, sondern verkleidete Satiriker – womöglich von der ZDF-„Heute-Show“, denn wenig später gehen einige ältere Potsdamer, die mit Sarrazin sympathisieren, vor laufender Kamera ganz fürchterlich auf den Leim. Heute-Show-Reporter Martin Sonneborn: „Sarrazin hat geschrieben, Schwaben sind klüger als Uckermärker“

Sehr ernsthaft wird die Situation, als wie aus dem Nichts entsprungen plötzlich Thilo Sarrazin auf dem Pflaster steht. Es gellt ein Pfiff, und Dutzende rennen auf den Bundesbanker zu. Kurz ist unklar, ob er von Journalisten oder linken Demonstranten umgerannt werden wird. Polizisten müssen ihn schützen, sie ziehen ihn zum Seiteneingang, es kommt zu Rangeleien. Als Sarrazin im Nikolaisaal verschwunden ist, verschließen Polizisten ein Gittertor mit Hilfe von Handschellen. „Die Schutzperson ist drin, die Lesung kann beginnen“, sagt Polizeisprecher Heinemann. Unter den Besuchern der Lesung ist auch CDU-Stadtfraktionschef Michael Schröder. Der zitiert Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer “ Guido Berg

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