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Landeshauptstadt: Freiheit schmeckt nach Zwiebeln

Von Zweien, die auszogen, um trotz Behinderung selbstständig ihr Leben zu gestalten

Meike Brauer heult. „Herrlich“, murmelt sie und wischt sich die Träne von der Wange. Mit vorsichtiger Messerführung zerschneidet sie die scharfe Zwiebel in feine Würfel, als würde sie jeden Schnitt genießen. Es ist über 15 Jahre her, als sie das letzte Mal selbst gekocht hat. Zur Feier des Tages soll es heute Hackbraten geben, mit hart gekochten Eiern drin – das hat ihre Mutter immer so gemacht. Und es gibt noch einen Anlass: Zwölf Wochen Brauer-Hartmann-WG.

„Was willst du denn hier“, pfeift sie ihren Mitbewohner Rainer Hartmann aus Spaß an. Der bugsiert seinen elektrischen Rollstuhl durch die verbreiterte Küchentür und schielt um die Ecke. „Wollt mal sehen, wie weit du bist.“ Der 45-Jährige ist von Geburt an körperbehindert. Aus der elterlichen Wohnung in Eisenach wollte er nach Potsdam ziehen. Er habe immer davon geträumt, bei Oberlin in Babelsberg zu wohnen. „Die Einrichtung habe ich mir während eines Urlaubs auf Hermannswerder angeschaut“, erzählt Rainer Hartmann. Mit der Erfüllung seines Traums vor wenigen Jahren hätte alles gut sein können. Gemeinsam mit Meike Brauer und einer zweiten Frau lebte er in einer Wohngemeinschaft im so genannten Handwerkerhaus „relativ autark und nicht übermäßig behütet“. Und dann hob er doch seinen Finger, als Angelika Klatt, Abteilungsleiterin Behindertenhilfe im Verein Oberlinhaus, ihre Idee vom Ambulanten betreuten Wohnen vorstellte. „Einfach so habe ich mich gemeldet. Ich galt als der Fitteste unter den Heimbewohnern“, sagt Hartmann. Richtig überzeugt war er nicht.

Das Größte für Meike Brauer ist, dass sie jetzt essen kann, was sie will und vor allem wann sie will. Das war in der Wohnstätte anders. Dort gab es feste Essenszeiten und die Mahlzeiten wurden geliefert. Zu viele Regeln, zu viel Gängelei. Freiheit schmeckt nach Zwiebeln und wenn der scharfe Saft der Knolle in den Augen brennt, dann gehört das zur Eigenständigkeit. Die 35-jährige Mecklenburgerin wollte nie ins Heim. Nach einem Suizidversuch mit Tabletten und Gas fiel sie in ein dreimonatiges Koma. Einer ihrer Brüder sei ermordet worden, das habe sie nicht verkraftet, erklärt die junge Frau kurz. Als sie wieder ins Leben zurückkehrte, konnte sie ihre Beine nicht mehr steuern. Auch sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Das Sprechen musste sie neu lernen. Wenn sie heute aufgeregt ist, überschlagen sich ihre Worte.

Sozialpädagogin Petra Saenger trainiert mit Meike Brauer Alltäglichkeiten. Zwei- bis dreimal in der Woche kommt sie nach Drewitz, um mit der WG-Bewohnerin Telefonieren zu üben oder Interessen für die Freizeitgestaltung zu wecken oder eben das Kochen zu Trainieren. „Anfangs klappte das mit dem Zwiebelschneiden überhaupt nicht. Sie rutschte mit dem Messer immer ab. Und dann plötzlich ging es“, erzählt Petra Saenger. Die Fertigkeit sei in Frau Brauers Kopf, sie müsse lediglich wieder abgerufen werden.

Als Meikes Mutter neue Arbeit annahm und sie nicht mehr betreuen konnte, kam die damals Anfang 20-Jährige in ein Wohnheim für geistig Behinderte und war dort deutlich unterfordert. Erst später fand sich im Oberlinhaus eine für sie passende Betreuungsform. Trotzdem war der lebenshungrigen Frau das alles zu eng, zu wenig selbstbestimmt. Meike Brauer war die treibende Kraft. Sie hat Rainer Hartmann zum Auszug überredet.

Unter den Oberlinern sind die Beiden zum Symbol für ein Wagnis geworden, das sich nur wenige zutrauen. Dennoch hat Initiatorin Angelika Klatt bereits eine lange Warteliste. Man brauche vor allem Geduld, sagt sie. Vor dem eigentlichen Auszug lägen viele Wochen Bürokratie und Warten. Finanziert werde der Weg in ein selbst organisiertes Leben von verschiedenen Leistungsträgern. Die meisten bezögen eine Rente, das Sozialamt zahle Eingliederungshilfe, die Krankenkasse Pflegeleistungen, zählt die Abteilungsleiterin auf. Das bedeute auch, dass man viele Anträge auszufüllen habe. Außerdem müsse eine geeignete Wohnung gefunden werden. Im Falle von Brauer und Hartmann habe es vom gefassten Entschluss bis zum Umzug rund acht Monate gedauert.

„Ganz schön zermürbend“, erinnert sich Meike Brauer. Die eigenen vier Wände der jungen Wohngemeinschaft seien ein Glücksfall. In der Viereinhalb-Zimmer-Wohnung in Drewitz hatte zuvor ein behinderter Mann mit seiner gesunden Frau gewohnt. Die Türen waren schon breit genug, Toilette und Waschbecken im Bad nach unten versetzt. „Allein hätte sie sich aber keiner von uns beiden leisten können“, erklärt Rainer Hartmann. Die Grundsicherung und die knapp 200 Euro Lohn für die Arbeit in der Behindertenwerkstatt reichten für das Single-Dasein nicht. Zu zweit sei ohnehin alles ein bisschen einfacher. Die Selbstständigkeit dürfe man sich nämlich nicht so leicht vorstellen, warnt Hartmann die Übermütigen. Als er im Juli dieses Jahres einzog, „hatte ich zwar eine eigene Wohnung, aber keinen Plan.“ Er habe nicht gewusst, womit er zuerst beginnen sollte. „Es war, als sei ich innerlich einmal umgekrempelt worden“, schildert der Mann mit den dunklen Haaren und dem Siebentagebart das Chaos in seinem Kopf. Zum ersten Mal musste er dem täglichen Ablauf eine eigene Struktur geben. Erst danach spürte er wieder Sicherheit.

„Die Bedürfnisse des Klienten sind für uns oberste Prämisse“, sagt Angelika Klatt. Ihre Abteilung, zu der sechs Bereiche – darunter die Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung und der Familienentlastende Dienst gehören – begleite Auszugswillige durch alle Entscheidungsphasen. „Wir wollen Ängste nehmen“, aber nicht zu viel versprechen. Auch die beiden Pioniere bekamen viele Hilfestellungen. Sie sollten vor und nach dem Umzug aufschreiben, was sie benötigten. Die zweite Bedarfsliste sei erwartungsgemäß länger ausgefallen, erzählt Sozialpädagogin Saenger. Der Alltag hat halt überraschende Tücken.

Meike Brauer hadert immer noch mit dem Zeitmanagement. Sie hat drei Stunden Zeit für das Kochen und vertrödelt die Hälfte. „Und dann habe ich auch noch vergessen, das Hackfleisch aus dem Eisfach zu nehmen“, weiß sie um ihre Schwächen. Auch wenn alles viel Mühe macht, sie viel hin und her hetzt, den Rollstuhl zwischen Herd, Tisch, Kühlschrank und Waschbecken rangieren muss, dazwischen Backofen vorheizen, Kartoffeln aufsetzen, Salat machen – lohnt es sich für das Gefühl. Meike Brauer und Rainer Hartmann haben es geschafft. Und sie bereuen nicht, den Mut aufgebracht zu haben. Mit dem Platz im Wohnheim wollen sie auf keinen Fall nicht mehr tauschen.

Nicola Klusemann

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