Von Werner Beidinger: Ganz Ohr sein
Professor Werner Beidinger erklärt, wie der Mensch Musik hören lernt
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Alljährlich im Herbst besuchen rund 2000 Mädchen und Jungen die Vorlesungen der Potsdamer Kinderuni. In den PNN gibt es jetzt die Vorträge von Wissenschaftlern der Universität Potsdam zum Nachlesen. Heute erklärt der Musikwissenschaftler Professor Werner Beidinger, wie der Mensch lernt, Musik zu hören und zu empfinden.
„Alle meine Entchen“ und „Hänschen klein.“ Wer kennt sie nicht? Fragt man junge oder auch alte Leute nach ihren frühesten Erinnerungen an Musik, dann singen sie sofort die bekannten Kinderlieder. Doch sind diese Melodien wirklich ihre ersten Erfahrungen mit Klang und Rhythmus? Gibt es da nicht viel früher schon ein vertrautes Ba-Bum, Ba-Bum, Ba-Bum?
Noch bevor ein Mensch geboren wird, hört er das schlagende Herz seiner Mutter. Bereits im vierten Monat der Schwangerschaft ist das Ohr des Kindes vollständig ausgebildet. Das Ungeborene, das man auch Fötus nennt, kann also den Herzrhythmus der Mutter wahrnehmen und sogar spüren, ob sie gerade entspannt oder aufgeregt ist. Viele schwangere Frauen wissen das und summen ihren Kindern gern beruhigende Melodien vor. Manchmal hat solch ein Lied allerdings einen anderen Rhythmus als das Herz. Das Baby hört dann zwei verschiedene Rhythmen zur selben Zeit. Ob es dabei durcheinanderkommt? Im Gegenteil. Es lernt die Rhythmen zu unterscheiden. So sammelt es seine ersten Erfahrungen mit Musik.
Erwachsene, die ihre Kinder frühzeitig fördern möchten, ermöglichen ihnen bereits während der Schwangerschaft eine Begegnung mit Musik. Durch die Bauchdecke hindurch kann der Fötus sie tatsächlich hören. Je unterschiedlicher und vielfältiger diese Musik ist, um so mehr kann das ungeborene Kind bereits über musikalische Phänomene „lernen“. Wichtig ist dabei, dass die Lieder und Stücke mit angenehmen Gefühlen verknüpft sind. Wenn die Mutter beim Singen oder Musikhören glücklich ist, spürt das auch das Kind. Die Chancen stehen gut, dass es die Musik später einmal lieben lernt.
Aber warum ist das so wichtig? Wozu braucht der Mensch überhaupt die Musik mit ihren verschiedenen Tönen und Rhythmen? Er braucht sie, um seine Empfindungen auszudrücken. Am einfachsten lernen wir Dinge, wenn wir sie mit etwas anderem vergleichen und in Bezug setzen können. Wenn wir Freude oder Traurigkeit ausdrücken wollen, dann wird unsere Musik freudig oder aber traurig klingen. Über die Tonarten, das Tempo, die Lautstärke und viele andere Merkmale können wir die Stimmung verändern. Natürlich entsteht auch beim Zuhören dieser Eindruck, aber nur, wenn man für die Musik zwei offene Ohren hat.
Musik zu empfinden, das kann man lernen. Grundsätzlich ist jedes Kind musikalisch. Es kommt ja schon mit dem Rhythmus des Herzens und dem Gesang der Mutter auf die Welt. Dann aber braucht es weitere Erfahrungen: laute und leise Lieder, gesungene Reime, Tanz und Bewegung, viele verschiedene Klänge, Töne und Rhythmen. All das speichert das heranwachsende Kind in seinem Gedächtnis. Über das Singen und Hören lernt es sogar die Regeln der Musik, ohne sie selbst nennen zu können. Spielt man ihm ein bekanntes Lied vor und lässt dabei einige Töne weg, wird es diese Töne meist mühelos ergänzen können. Wer gerne Geschichten hört, kennt dasselbe vom Vorlesen. Solche Kinder merken ganz genau, wenn die Mutter oder der Vater im Lieblingsbuch eine Zeile übersprungen haben. Sie können dann die fehlenden Worte ergänzen. Das funktioniert allerdings nur, wenn in der Familie und in der Schule viel gesungen und gelesen wird.
Aber es macht ja auch Spaß, gemeinsam ein Lied zu singen, auf der Trommel den Rhythmus zu schlagen oder in einem Orchester ein Instrument zu spielen. Musik hat nämlich noch eine andere, ganz besondere Kraft: Sie verbindet die Menschen. Wer in einer Gruppe musiziert, muss aufeinander hören, sich auf die anderen einstellen, achtsam sein. Tut er es nicht, geraten alle Töne durcheinander.
Aufgeschrieben von Antje Horn-Conrad
Werner Beidinger
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